Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Marschieren in Todesangst
Bluespots Productions Täglich durchquerten 1945 Zwangsarbeiter Pfersee und das südliche Augsburg bis zur Messerschmitt-Fabrik in Haunstetten. Ein Audio-Walk erinnert an den Marsch. Eine Uraufführung, die an Grenzen ging
Halle 116, Außenstelle des Konzentrationslagers Dachau. Die Sonne brennt. Verblichene Holztüren an der Längsseite des Gebäudes – etwa 50 Zuschauer stehen in der Hitze. Selten, vielleicht noch nie, gab es wohl eine anstrengendere Aufführung in Augsburg als diese. Ihre Qualität, erklärt eine freundliche weibliche Stimme durch den Kopfhörer, hängt von der Qualität der Gedanken ab. Sie fährt fort: „Konzentrationslager“hießen erst KL. Doch die Nationalsozialisten wollten es zackiger, militärischer. Also KZ. Kazett, Kazett, Kazett, flüstert es im Ohr. Tatsächlich beginnen sich dort Bilder zu formen – von den 1500 osteuropäischen Zwangsarbeitern, die hier 1944 und 1945 gefangen gehalten wurden. Drahtzäune unterteilten die Halle in acht Schlafblöcke. Je 200 Männer schliefen hier im Rhythmus ihrer 12-StundenSchichten in den Augsburger Fabriken. Die Strohsäcke waren 24 Stunden belegt. Flugzeugbauer Messerschmitt mietete die Häftlinge für vier bis acht Reichsmark pro Tag von der SS. Ab dem letzten Kriegswinter mussten sie dorthin laufen. In Holzpantinen, wer Glück hatte. Elf Kilometer bis zum heutigen Standort von Premium Aerotec. Zwölf Stunden später dasselbe zurück. Bewacht von Schäferhunden und den Schlagstöcken der SS.
Technisch und künstlerisch eindrucksvoll legte das Theaterensemble Bluespots Productions die Strapazen der Zwangsarbeiter der Halle 116, aber auch die Verflechtung ihrer Schicksale mit der Gegenwart frei. Zusammen mit dem Künstlerinnenkollektiv Hannsjana aus Berlin produzierten sie das vielstimmige Hörstück „Memory Off Switch“, das im Rahmenprogramm zum Augsburger Friedensfest am Sonntag vorgestellt wurde. Alle neun Titel, geschrieben von den Augsburgern Leonie Pichler, Evamaria Haas, Alexander Rupflin, Gerald Fiebig und Anton Limmer, sind auch ohne die Stadtwanderung online nachzuhören.
Es ist ein stummer Zug, der sich in Bewegung setzt. Das Publikum wird Teil der Performance. Jeder folgt für sich und in seinem eigenen Tempo den freundlichen Anweisungen im Ohr. Entlang der Halle und der Kasernenmauer geht es in den Sheridan Park. Man möge sich auf die Hügel dort stellen und Rücksicht auf die Skater nehmen, sagt die Stimme. Neugierige Blicke Unbeteiligter folgen der merkwürdigen Choreografie. Das sanierte Haus links beginnt zu sprechen: Es sei das ehemalige Kommandantengebäude und habe einen Auftrag: „Erinnern Sie sich!“Die neuen Häuser im Norden des Parks freuen sich, dass sie so viel Platz im Grünen haben. Das Schild „Mitek-Pemper-Weg“fordert zur Kommunikation mit ihm auf. Die Zuhörer spielen mit.
Inmitten des grauen Zugs der Zwangsarbeiter in ihren gestreiften Jacken geht es durch die Gassen der Widerständler Hans Adlhoch und Bebo Wager zur Augsburger Straße. Einzelne Zuhörer zieht es in die Eisdiele, aber auch wieder zurück in die Spur. An der Wertach entlangschlendernd lauscht man den Überlegungen Leonie Pichlers über Fehler der Gegenwart, die denen der Vergangenheit so ähnlich sind. Der Vater sei nie in Dachau gewesen und erklärt, die Gasduschen dort seien nie gelaufen. Haltungen, die den Familienfrieden der Erzählerin ins Wanken bringen. Füße im Wasser, Wein am Ufer – der Wertachweg ist voller Sommer. Dabei gilt genau diese Strecke historisch sicher als Teil der Zwangsarbeitermärsche. Der Zuhörer setzt einen Schritt vor den anderen, verliert sich in Pichlers 20-minütiger Erzählung. Die Sonnenbadenden passen nicht ins Bild.
Über die Eisenbrücke, am TVA vorbei, den „kleinen grünen Weg“bergauf. Im Ohr die Reflexionen Alexander Rupflins über das Gehen mit erhobenem Haupt. Ein Bericht über Schläge, Denunziationen und Hinrichtungen wegen Faulheit. Und jener Brief, der das Bemühen von Architekten, Landräten und des Haunstetter Bürgermeisters Xaver Widmeier um das MesserschmittLager in der Inninger Straße dokumentiert. Der Brief bittet den Augsburger Bürgermeister um die Erweiterung des Halle-117-Vorläufers in der Inninger Straße.
Dann über den Asphalt des Industriegebiets Eichleitner Straße zum Messegelände. Witold Scibak, der Zeitzeuge, der 2016 in Augsburg erstmals von seinen Erlebnissen als 15-jähriger Zwangsarbeiter berichtete, erzählt von den Amerikanern, die ihn 1945 in einem Wald aufsammelten.
Bluespots Productions, Hannsjana und den Kooperationspartnern ist ein körperlich wie psychisch berührendes und hoch emotionales Stück Erinnerungskultur gelungen. Dass das Publikum sich ab der Hälfte des Weges zerstreute, zum Teil auflöste, gehörte zur Aufführung. Auch die Reporterin – soviel sei gesagt – verließen nach zwei Dritteln des Weges und sieben von neun Hörstationen die Kräfte. „Memory Off Switch“ist ein abwechslungsreiches, politisches und poetisches Hörspiel und ein mutiges Kunstexperiment, das man dank Internet laufend wiederholen kann. O
Infos und das Hörstück „Memo ry Off Switch“zum Download unter bluespotsproductions.de