Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (35)
Manchmal reizte eine Meldung in den Nachrichten ihre Phantasie, und sie schmückte sie zu einer Geschichte aus. Wie John Dempsey den größten Fisch des Sommers fing. Worüber die Gäste des Crossroads Café in Streit gerieten. Warum Catalina Fisk nicht die Ambulanz rief und starb, obwohl sie hätte gerettet werden können.
„Hast du Angst vor dem Tod?“Irene dachte so lange mit geschlossenen Augen nach, dass ich mich fragte, ob sie meine Frage vergessen hatte oder eingeschlafen war. Es geschah manchmal, dass sie sich mitten im Gespräch an andere Gedanken verlor oder auch an die Müdigkeit, ihre ständige Begleiterin. „Was ich versäumt habe?… Ist das Angst vor dem Tod? Weil es dann endgültig ungesagt, ungetan, ungelebt bleibt? Aber eigentlich ist es das schon jetzt, schon lange. Ich kann es schon lange nicht mehr in Ordnung bringen.“
Sollte ich weiterfragen? Hat Parzival dem Alten nach der einen Frage
noch weitere gestellt? Wo hört das Mitgefühl auf und fängt die Aufdringlichkeit an? „Was würdest du gerne in Ordnung bringen? Was du mit gefärbten Haaren und Sonnenbrille gemacht hast?“
Sie öffnete die Augen und sah mich an. „Ach, das … Nein, ich würde meine Tochter gerne noch mal sehen oder doch wissen, wie es ihr geht, was sie macht.“Sie sah die Frage in meinem Gesicht. „Ich habe in der DDR geheiratet und unerwartet, ich war eigentlich schon zu alt, eine Tochter bekommen. Ich wollte sie meinem Mann nicht wegnehmen. Dass ich spurlos verschwand, muss schlimm genug für ihn gewesen sein, aber auch noch Julia … Auf seine pedantische Art hat er uns beide sehr geliebt.“
Warum hast du gerade so einen gewählt, hätte ich gerne gefragt. Ich hätte auch gerne gewusst, warum sie Mann und Tochter zurückgelassen und keinen Kontakt zu ihnen hergestellt hatte und was sie nach ihrer Zeit mit gefärbten Haaren und Son- nenbrille eigentlich zu befürchten hatte. Hatte sie doch jemanden umgebracht? Was hatte sie Gundlach gesagt? Sie sei eben dabei gewesen. Das ließ alles offen. „Ich kann nach Rock Harbour fahren und meine Kanzlei anrufen und rausfinden lassen, was mit Julia ist.“
„Machst du es nach meinem Tod? Und schaust, ob sie etwas braucht? Und sorgst, dass sie kriegt, was von dem Erbe meiner Mutter übrig ist?“Sie nahm meine Hand.
Mir war nicht wohl. Was, wenn Julia tatsächlich etwas brauchte? Eine Ausbildung? Eine Behandlung, die die Krankenkasse nicht zahlte? Eine Psychotherapie? Eine Entziehungskur? Was, wenn sie nicht nur drogenabhängig war, sondern auch mit Drogen handelte oder auf den Strich ging, um die Drogen zu finanzieren, oder kleine Delikte beging – oder sogar große? Das Geld für den Verteidiger oder die Behandlung oder die Ausbildung aufwenden war das eine. Aber würde ich sie in Berlin auf dem Strich suchen müssen, Nacht um Nacht, und schließlich eine ordinäre, dumme Person finden und mich darum kümmern müssen, dass aus ihr etwas Rechtes wurde? Ich hatte selbst bei guten Freunden abgelehnt, Patenonkel ihrer Kinder zu werden, weil mir die Verantwortung zu groß war. Ich nickte. „Ja?“
„Ja.“
„Sie war ein liebes Kind. Ich ging, als sie in die Trotzphase kam, in der sie nicht eigentlich trotzig wurde, sondern schmollte, mit aufgeworfenen Lippen und feuchten Augen, und wenn ich ihr erklärte, warum sie nicht haben konnte, was sie haben wollte, hörte sie sofort auf.“
Irene weinte. Zuerst hörte ich sie leise wimmern, dann laut heulen, und dann erkannte ich ihr Gesicht kaum wieder, die zerfurchte Stirn, den aufgerissenen Mund, sie warf den Kopf von Seite zu Seite, bis sie das Gesicht im Kissen vergrub.
Weinen – diese billige Tour, auf die Frauen uns ins Unrecht setzen! Ich kann’s nicht ertragen, und ich rechne meiner Frau hoch an, dass sie es in unserer Ehe bald gelassen hat, weil sie begriffen hat, dass das Spiel mit den Tränen nicht fair ist, dass es mich abstößt, dass ich mich ihm verweigere. Ich kann mit Stolz sagen, dass auch meine Kinder nicht geweint haben; meine Älteste hat sich mit acht den Arm gebrochen, ist mit dem gebrochenen Arm vom Spielplatz nach Hause gelaufen und mit meiner Frau und mir ins Krankenhaus gefahren, ohne eine einzige Träne.
Aber wie sollte ich Irene erklären, dass ich für ihren Kummer nicht verantwortlich und für ihre Tränen der falsche Adressat war? Sie hörte nicht auf zu weinen und hielt weiter meine Hand, so dass ich auch nicht einfach gehen konnte. Schließlich konnte ich ihr Weinen, ihr ins Kissen gepresstes Gesicht, ihre zuckenden Schultern und mein täppisches Danebensitzen nicht mehr aushalten und nahm sie in die Arme und wiegte sie und machte tröstende Geräusche, bis sie einschlief.
Als sie in meinen Armen aufwachte, sah sie mich freundlich oder sogar freudig an, lächelte und sagte „danke“. Ich verstand nicht, wofür sie mir dankte, wollte aber auch nicht in Frage stellen, was ihr anscheinend Freude bereitete, und lächelte zurück.
Dann begann auf den Feldern des Mittleren Westens die Ernte. Irene hatte einmal Bilder von Mähdreschern gesehen, die in Reih und Glied über Getreidefelder fuhren, und fragte: „Wo sind die Maschinen?“In ihrer Erinnerung wehten auf den Mähdreschern Fahnen, und die Traktoristen und Traktoristinnen lachten fröhlich – eher sowjetische Propaganda als amerikanische Wirklichkeit, aber ein paar Fahnen auf den Mähdreschern des Mittleren Westens schadeten nicht, und die Gesichter der Fahrer und Fahrerinnen konnten wir vom Auto nicht sehen. So fuhren wir denn viele Stunden, in denen immer wieder Mähdrescher auftauchten, manchmal mehrere in Reih und Glied, meistens einzelne Ungetüme, alle mit Fahnen.
Wir übernachteten in Motels. Die Zimmer, immer groß, hatten zwei Betten und einen Fernsehapparat, unter der Decke an die Wand geschraubt, beim Empfang gab es einen Automaten mit Cola und Sprite und Eiswürfeln, und vor dem Einschlafen lagen wir auf den Betten, tranken Bier und aßen Chips, im letzten Ort gekauft, und sahen fern.
„Mich beschäftigte, was uns in San Francisco erwarten würde und wie wir dort zurechtkämen. Ich wollte darüber reden, aber du wolltest nicht; du wolltest nicht planen, sondern sehen, wie’s kommt. Ich glaube, du fandest mich kleinkariert – warum hast du dir eigentlich einen pedantischen Mann gesucht?“
Sie sah mich wieder so an. „Nicht dass du denkst, ich wäre eifersüchtig. Mich interessiert einfach, warum du gemacht hast, was du gemacht hast. Werden dir meine Fragen schon zu viel? Eben noch wolltest du mehr gefragt werden.“
„Nein, sie werden mir nicht zu viel. Helmut war wie die DDR. Seine Verlässlichkeit tat mir gut, seine fürsorgliche, vormundschaftliche Art. Wie ich dich fand – ich weiß es nicht mehr. Bist du kleinlich?“
»36. Fortsetzung folgt