Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Walk of Shame
Film Harvey Weinstein war einer der erfolgreichsten Produzenten in Hollywood. Dass er Frauen belästigt und missbraucht hat, wusste so gut wie jeder in der Branche. Warum in diesem Gefüge aus Macht, Geld und Unterdrückung trotzdem alle geschwiegen haben
Washington Selbst Elizabeth Warren hat geschwiegen. Bis jetzt. Die Senatorin von Massachusetts ist eine der bekanntesten Politikerinnen in den USA und eine mögliche Bewerberin um das Präsidentenamt bei der Wahl in drei Jahren. Warren ist eine Kämpferin und auch in den ruppigsten politischen Auseinandersetzungen kaum aus der Ruhe zu bringen. Doch als die 68-Jährige nun auf den Fall vor 30 Jahren zu sprechen kommt, über das, was ihr als junge Jura-Professorin im Büro eines älteren Kollegen passiert ist, versagt ihr fast die Stimme.
„Er knallte die Tür hinter sich ins Schloss, kam auf mich zu und jagte mich um den Schreibtisch, um an mich ranzukommen“, berichtet Warren dem Sender NBC. „Ich flehte ihn an: ‚Tu das nicht, ich habe kleine Kinder zu Hause.‘“Sie konnte schließlich in ihr eigenes Büro fliehen. „Ich saß da und zitterte.“Nur ihrer besten Freundin erzählte sie damals davon – und beschloss, sich fortan für Männer möglichst unattraktiv zu machen. „Ich habe lange viel Braunes getragen.“
Es sind Bekenntnisse wie diese, die in den USA derzeit fast jeden Tag fallen. Genauso, wie kein Tag vergeht ohne neue Unappetitlichkeiten rund um den Filmproduzenten Harvey Weinstein. Kaum jemand in Hollywood ist so schnell so tief gestürzt wie der gefürchtete, aber über Jahrzehnte erfolgreiche Mogul. Die Lawine an Vorwürfen von Vergewaltigung, sexueller Belästigung, Machtmissbrauch und Einschüchterungen reißt nicht ab, seit vor knapp drei Wochen Schauspielerinnen in der New York Times und im New Yorker auspackten. Inzwischen haben sich rund 40 Frauen mit dem Vorwurf gemeldet, Weinstein habe sie sexuell belästigt, darunter auch Stars wie Gwyneth Paltrow, Ashley Judd und Angelina Jolie. Mindestens sechs Frauen werfen ihm vor, er habe sie vergewaltigt.
Man möchte am liebsten gar keine neuen, hässlichen Details mehr hören. Und doch sind sie unvermeidlich, wenn man sich ein Bild dieses Mannes machen will. Da sind die Geschichten über einen Typen, der kein Nein als Antwort akzeptierte, der keinerlei Manieren hat und noch stolz ist auf seine ungehobelte Art. Da sind die vielen Schilderungen, wie sich der 120-KiloKoloss die Frauen gefügig machte – meist junge Schauspielerinnen, die er unter dem Vorwand in seine Hotelsuite oder ins Büro bestellte, über ein Drehbuch oder eine Rolle zu sprechen. Dann ließ er sich nackt von ihnen massieren, duschte vor ihnen oder fasste ihnen an die Brüste. Nach dem Motto: Mach mit oder aus deiner Karriere wird nichts!
Zuletzt hat sein ehemaliger Chauffeur Mickael Chemloul in der britischen Zeitung Sun ausgepackt – erzählt, dass Kondome und Viagra immer im Handschuhfach der Limousine vorrätig sein mussten, dass es stets einen Vorrat an Süßigkeiten, Cola und Kaugummi gegeben habe, damit Weinstein genug Energie für seine Sex-Orgien hatte. Oder, dass der 65-Jährige die Nacht mit einer jungen Frau im Hotelzimmer verbrachte, während nebenan seine hochschwangere Frau schlief.
Inmitten dieses Skandals stellt sich die Frage, was schwerer wiegt: Weinsteins Übergriffe oder die Tatsache, dass so viele weggeschaut haben? Denn das, was der Filmboss trieb, war in Hollywood ein offenes Geheimnis. Wie sonst kann es sein, dass der Komiker Seth MacFarlane 2013 bei der Bekanntgabe der Oscar-Nominierungen für die beste Nebendarstellerin flachste: „Herzlichen Glückwunsch an die fünf Damen, die nicht länger so tun müssen, als fänden sie Harvey Weinstein attraktiv“? Und wie kann es sein, dass das versammelte Showbusiness in lautes Gelächter ausbrach – wohlwissend, was dieser Mann treibt?
Der Fall Weinstein hat in den USA nicht nur eine Debatte über sexuelle Übergriffe auf Frauen in der Unterhaltungsbranche und über die Mitwisserschaft eines Systems losgetreten. Denn das Problem ist größer: Plötzlich wird sichtbar, dass Frauen auch weitab von Hollywood immer wieder Opfer von Sexismus werden, von ungebetenen Avancen bis hin zur offenen sexuellen Gewalt. Bei Film und Fernsehen ist der Missbrauch bloß sichtbarer.
In seiner Zeit als Fernsehstar prahlte US-Präsident Donald Trump damit, dass er wildfremden Frauen zwischen die Beine greifen könne, ohne dafür bestraft zu werden. Als die Äußerungen bekannt wurden, spielte Trump sie als Stammtisch-Bemerkung herunter. Comedy-Legende Bill Cosby musste sich im Sommer vor Gericht verantworten, weil er während seiner langen Karriere mehr als 50 Frauen vergewaltigt oder mit Drogen gefügig gemacht haben soll. Weil sich die Geschworenen nicht auf ein Urteil einigen konnten, kam Cosby nicht ins Gefängnis.
Bill O’Reilly, ein früherer Starmoderator beim Nachrichtensender Fox News, musste im Frühjahr gehen, weil seine sexuellen Übergriffe gegen mindestens fünf Frauen publik wurden. Der Sender feuerte den Moderator aber nicht etwa we- der Angriffe selbst; die betroffenen Frauen waren mit Millionenzahlungen zum Schweigen verpflichtet worden. O’Reilly wurde entlassen, weil die Übergriffe an die Öffentlichkeit kamen und große Unternehmen ihre teuren Werbespots in seiner Sendung stoppten.
Nun berichtet die New York Times, dass O’Reilly mit einer Beragen terin des Senders eine „sexuelle Beziehung“gegen deren Willen gehabt haben soll. Die Frau erhielt demnach 32 Millionen Dollar Schweigegeld. Vor O’Reilly musste bei Fox bereits der Gründer des Senders, Robert Ailes, das Feld räumen, dessen frauenfeindliches Verhalten 2016 ruchbar geworden war.
In sozialen Netzwerken ist es die Kampagne „Me too“(„Ich auch“), die täglich neue Erzählungen von Missbrauch und sexueller Belästigung ans Licht bringt. Da ist die Angestellte einer staatlichen Gesundheitsbehörde, die von einem Kollegen aufgefordert wird, ihre Brüste zu entblößen – und es tut, weil sie um ihre Karriere fürchtet. Da ist die junge Ausbilderin in einem Technologie-Unternehmen, die von ihrem Vorgesetzten begrapscht wird. Da ist die junge Juristin in einer Anwaltskanzlei, die sich über die sexuellen Anspielungen eines Kollegen beklagt und zur Antwort erhält, ein so respektierter Kollege würde so etwas nie tun.
Und diese Fälle scheinen keine Ausnahme zu sein. Allein in der Werbebranche werden einer Studie zufolge mehr als 50 Prozent der weiblichen Angestellten mindestens einmal in ihrem Berufsleben Opfer sexueller Belästigung. Kritiker sprechen von einem „systemischen“Problem in dem Unternehmen. Das zeigt auch die Liste der Rücktritte: Roy Price, Filmchef beim InternetRiesen Amazon, trat kürzlich zurück, weil er eine Mitarbeiterin sexuell belästigt haben soll. In Kalifornien musste ein prominenter Astrologe und Kandidat für den Nobelpreis seinen Posten an der Universität Berkely räumen, weil er Studentinnen begrapscht hatte. Der Fahrdienst Uber feuerte 20 Mitarbeiter, nachdem Ermittler ihnen die sexuelle Belästigung von Mitarbeiterinnen vorgeworfen hatten. Auch die Modebranche reagiert: Der Verlag Condé Nast, in dem etwa die Vogue erscheint, beendete am Dienstag die Zusammenarbeit mit dem SkandalFotografen Terry Richardson. Mehrere Models werfen ihm sexuelle Belästigung vor.
In der Politik ist es offenbar nicht anders. Da ist das Beispiel der Senatorin Elizabeth Warren aus ihrer Zeit als junge Anwältin. Ihre Kollegin Claire McCaskill berichtet, dass sie als junge Abgeordnete in ihrem Heimatstaat Missouri ihren Fraktionschef fragte, wie sie ihren ersten Gesetzentwurf voranbringen könne. Seine Antwort bestand in der Gegenfrage: „Hast du deine Knieschoner mitgebracht?“– eine Anspielung darauf, dass sie vor ihm niederknien und ihn befriedigen solle. Wegen dieser Erfahrung sei sie über den Weinstein-Fall nicht geschockt gewesen: „Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es mich überrascht hat.“
Auch das US-Militär kämpft mit sexuellen Übergriffen – und zwar ausgerechnet bei Offizieren, deren Aufgabe die Bekämpfung von Missbrauch ist. Wie die Washington Post berichtet, geht es um einen MilitärStaatsanwalt, der auf Ermittlungen von mutmaßlichen Fällen sexuellen Missbrauchs spezialisiert ist. Er soll einer Rechtsanwältin ein Messer an die Kehle gehalten und sie mehrfach vergewaltigt haben.
Manche Beobachter meinen, Skandale wie der um Bill Cosby hätten schon vor dem Fall Weinstein ein Umdenken eingeleitet. Demnach vertrauen sich mehr Frauen als früher der Polizei an, um ihre Peiniger vor Gericht zu bringen: Die Zahl der gemeldeten Vergewaltigungen in den USA stieg von 82000 Fällen im Jahr 2013 auf fast 96 000 im vergangenen Jahr. Allein in New York nahm die Zahl im vergangenen Jahr um mehr als sieben Prozent zu. Die Behörden gehen davon aus, dass diese Entwicklungen vor allem damit zusammenhängen, dass das Tabu, Opfer eines Übergriffs zu werden, langsam, aber sicher fällt.
Wenn das so ist, dürften der Weinstein-Skandal, die „Me too“Kampagne und die Tatsache, dass prominente Frauen wie Angelina Jolie oder Elizabeth Warren ihr Schweigen brechen, für weitere Schockerlebnisse sorgen. Doch damit ist es nicht getan, warnt Alexandra Petri. Die Kolumnistin der Washington Post sieht das Grundübel in einem Gesellschaftsklima, das den Frauen die Schuld zuschiebt und das sexuelle Gewalt von Männern als so unabänderlich „wie das Wetter“hinstellt.
Bisher werde die schiere Existenz von Frauen als Grund dafür angeführt, dass sie von Männern belästigt, missbraucht oder vergewaltigt werden, schreibt Petri. Den Frauen werde suggeriert, ihre Situation sei wie die eines Passanten, der in einer dunklen Gasse beraubt wird: So etwas passiert nun einmal in dunklen Gassen. Damit sich an dieser Sichtweise etwas ändert, braucht es Frauen, die bereit sind, über das zu sprechen, was ihnen passiert ist. Sie müssen sich auch von dem Gedanken befreien, dass sie Übergriffe selbst verschuldet haben – weil sie attraktive Kleidung tragen, weil sie hübsch oder jung sind oder am Arbeitsplatz die Unterstützung männlicher Vorgesetzter brauchen. „Er ist es, der sich danebenbenimmt“, nicht die Frau“, sagt die Politikerin Elizabeth Warren. Petri formuliert es anders: „Männer sind nicht das Wetter.“
Im Handschuhfach waren immer Kondome und Viagra
Noch immer heißt es: Frauen sind selbst schuld