Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die neue Macht der Verbraucher
Serie Noch nie konnten sich die Menschen den Konzernen so einfach und wirkungsvoll entgegenstellen wie heute. Aber die Unternehmen reagieren auf die Situation auch mit neuen Mitteln. Ein Zustandsbericht zur veränderten Konsumwelt
Es gibt so viele Beispiele, dass sich fast beliebig eines auswählen lässt. Etwa dieses: Vor drei Jahren nahm die spanische Modekette Zara ein T-Shirt für Kinder aus dem Sortiment, weil sich im Internet tausende Menschen über das Kleidungsstück beschwert hatten. Sein Oberteil war gestreift und auf der linken Seite prangte ein gelber Stern. Viele Menschen hinterließen empörte Kommentare auf der Facebook-Seite des Unternehmens: Sie fühlten sich an jene Kleidung erinnert, die Juden in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs tragen mussten. Shitstorm nennt man solch einen Internet-Sturm der Empörung, der sich binnen Minuten in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter zusammenbrauen kann – und manchmal sogar einen Weltkonzern zum Einlenken zwingt.
Am Anfang eines solchen Shitstorms steht ein erboster Mensch, der seinen Ärger in die Welt hinaussenden will. Noch vor zehn Jahren hätte er einen Brief oder eine Mail an den Konzern aufsetzen müssen – ein langer, mühsamer Weg. Heute aber hat der (potenzielle) Verbraucher durch Internet und soziale Medien eine Macht, die so groß ist wie niemals zuvor.
Es ist ein bisschen wie bei David und Goliath. So wie David den viel stärkeren Gegner mit einer Steinschleuder niederstreckte, können Verbraucher heute allein mit dem Smartphone Konzerne empfindlich verletzen. Ein einzelner FacebookPost kann den Ruf eines Unternehmens beschädigen, eine schlechte Zwei-Sterne-Bewertung ein Produkt niedermachen.
Das Gute ist: In der neuen Konsumwelt, in der die Kunden immer kritischer, immer vernetzter sind, können Konzerne sich weniger leicht abschotten. Kinderarbeit, un- Tierhaltung, Umweltsünden – all das kommt heute viel leichter und schneller ans Licht als früher. Längst steuern viele Unternehmen mit ihren eigenen Mitteln dagegen. Große Modehersteller wie H&M, C&A und Nike haben in den vergangenen Jahren nachhaltige Linien herausgebracht: In DiscounterRegalen stehen mittlerweile BioProdukte, und die Deutsche Bahn fährt zu fast 50 Prozent mit Grünstrom. Das kann als Erfolg der Verbraucher verbucht werden, aber auch als schlaue Marketing-Strategie der Unternehmen. Nachhaltigkeit ist zum Verkaufsargument geworden, Konzerne wollen als Verbündete ihrer Kunden erscheinen.
Der amerikanische Ökonom Itamar Simonson, Professor an der Stanford-Universität, hat vor einiwürdige ger Zeit mit seinem Kollegen Samuel Rosen ein Buch über den neuen Verbraucher geschrieben. In „Absolute Value“beschreibt er, wie manipulierbare Konsumenten nach und nach durch informierte Konsumenten ersetzt werden. Wer heute eine Reise bucht, muss sich nicht mehr auf die geschönten Prospekte der Reisehersteller verlassen. Er kann mit wenigen Klicks im Internet prüfen, ob das gebuchte Hotel wirklich Meeresblick bietet – und nach der Reise andere Urlauber informieren, ob der Pool sauber und die Angestellten freundlich waren. Die Konsumenten, schreibt Simonson, erkennen durch völlige Transparenz, welchen Wert ein Produkt hat – und lassen sich weniger leicht durch Werbung beeinflussen.
Aber selbst die wichtigste Währung der modernen Konsumwelt, die Empfehlung, kann gefälscht werden. Nach einer Studie der Fachhochschule Worms sind allein auf Reiseportalen 15 Prozent der Bewertungen manipuliert. Andere Experten gehen davon aus, dass branchenübergreifend jede zehnte Bewertung nicht echt ist. Nicht eingerechnet ist dabei der Einfluss, den Social Bots haben könnten. Schon jetzt gibt es Millionen von falschen Accounts, die in sozialen Netzwerken und auf Bewertungsportalen automatisiert Nutzer anschreiben und gezielt Produkte bewerben.
Neue Arten der Manipulation gibt es aber auch abseits der Vergleichsportale: In den sozialen Netzwerken, der Heimat der „Influencer“– jener modernen Meinungsmacher also, die auf Youtube und Instagram Millionen Menschen zeigen, was sie anhaben, was sie essen, wie ihr Fitnessprogramm aussieht. Längst haben Unternehmen diesen Marketing-Kanal entdeckt und angefangen, die Youtuber und Blogger dafür zu bezahlen, etwa ein bestimmtes Deo-Spray in die Kamera zu halten. Interessant: Obwohl viele Influencer Werbung machen, erscheinen sie ihrer Zielgruppe deutlich glaubwürdiger als die meisten Unternehmen – gerade weil sie jung sind, unerfahren, manchmal auch unbeholfen. Glaubwürdigkeit ist zum Geschäft geworden.
Ergo: Der Verbraucher ist zwar so mächtig wie nie zuvor. Aber er nutzt seine Macht nur zum Teil. Letztlich lässt er sich ähnlich leicht manipulieren wie zuvor – mit dem Unterschied, dass die Mittel der Manipulation sich verändert haben.
Der Verhaltensforscher und Bestseller-Autor Dan Ariely geht sogar davon aus, dass der Mensch kaum anders kann, als sich manipulieren zu lassen. Ariely hat anhand verschiedener Verhaltens-Experimente immer wieder demonstriert, dass Menschen sich bei ihren Kaufentscheidungen von völlig unvernünftigen Gründen leiten lassen – etwa einem vermeintlichen Preisnachlass oder einem Gratis-Kaffee.
Der durchschnittliche Mensch könne sich gegen diese Art der Manipulation kaum wehren, sagt Ariely, „denn unsere Gehirne funktionieren nun einmal so“. Er beschreibt die Verbraucher als Figuren in einem Spiel. Dort herrschen Kräfte, von denen sie keine Ahnung haben – oder die sie zumindest gewaltig unterschätzen.
Womöglich ist der wahre Spielraum, den Konsumenten heute haben, gar nicht viel größer als in früheren Zeiten. Eines hat sich aber verändert: Es sind nicht mehr nur die Konzerne, die verstehen, wie das Spiel funktioniert. Auch Verbraucherorganisationen wie Foodwatch kennen die Spielregeln längst. Beide Seiten befinden sich heute in einem ständigen Wettbewerb um die Gunst und das Vertrauen des Konsumenten. Der Verbraucher muss – oft intuitiv – entscheiden, wem er beides schenkt. Er ist also so umworben wie nie zuvor. Auch das ist letztlich eine Form von Macht.