Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Der Retter des „versauten Hirschs“
Sammlung Für ein paar Hunderter kaufte Lothar Schirmer als Abiturient seine ersten Blätter von Joseph Beuys. Was daraus entstand, zeigt der Kunstbuchverleger jetzt im Münchner Lenbachhaus
München Die schäbige Holzvitrine mit den drei unappetitlichen braunen Objekten fand er einfach nur grauenhaft. Einige Meter weiter, in einem ganz anderen Bereich der Documenta 3 von 1964, entdeckte der damals 19-jährige Lothar Schirmer dann aber drei Bleistiftzeichnungen, die ihn „ungeheuer elektrisierten“. Doch auf dem Schild daneben stand schon wieder: Joseph Beuys. Den kunstaffinen Pennäler hat das mindestens ratlos gemacht. Wie konnte einer so abstoßendes Zeug fabrizieren und gleichzeitig auf einem Blatt Papier so ungemein sensible Striche setzen?
Der mittlerweile 72-jährige Münchner Kunstbuchverleger amüsiert sich heute noch, wenn er von diesem Missverhältnis erzählt. Zumal auf einem der Blätter auch noch ein Hirsch zu sehen war, und der sei neben dem saufenden Mönch ungefähr „das versauteste Motiv der Kunst überhaupt“gewesen, abgenutzt durch ungezählte Wohnzimmer-Schinken. „Aber wie Beuys das gezeichnet hat“– und da wird Schirmer dann fast ein bisschen andächtig beim Rundgang im Lenbachhaus – „war das wie ein altes Lied, neu gesungen von einer Maria Callas.“Schließlich war das der Auftakt zu einer folgenreichen Beziehung, denn der Widerspruch musste ja geklärt werden. Schirmer besuchte den merkwürdigen Künstler in Düsseldorf, und schon bei der Durchsicht einer prall gefüllten Mappe war er infiziert. Mit drei Arbeiten für insgesamt 700 Mark zog der Abiturient nach Hause, zahlbar in Raten.
Und nun sind im Ausstellungssaal der Städtischen Galerie um die 200 Werke aus seiner sehr viel umfangreicher gewordenen Sammlung zu sehen, die von 1945 bis in die letzten Jahre vor Beuys’ Tod 1986 reicht. Im Gegensatz zu den Objekten erlauben diese Blätter tatsächlich einen leichteren Zugang zu einem OEuvre, das bei allen noch so einleuchtenden Erklärungen kryptisch und für viele formal sperrig bleibt. Gerade im Lenbachhaus weiß man um das Dilemma der Beuys-Vermittlung, 1979 hat der
Erwerb der Installation „Zeige deine Wunde“für einen legendären Sturm der Entrüstung gesorgt. Vom teuersten Sperrmüll aller Zeiten war damals die Rede.
Keine 40 Jahre später geriert sich München nun als Beuys-Stadt, demonstriert durch einen eigenen, gut gefüllten Trakt in der ehemaligen Lenbachvilla. Und von der vielzitierten Badewanne bis zum Environment „vor dem Aufbruch aus Lager I“stammt so manches aus Lothar Schirmers Beständen, teils angekauft, teils geschenkt. Insofern ist die Ausstellung von Beuys’ Aquarellen und Zeichnungen, Drucken, Postkarten, Manuskripten, Entwurfsskizzen und Papierfliegern eine höchst sinnvolle Ergänzung.
Sieht man von der Selbstdarstellung des gewieften Medienprofis Beuys und den Polit-Plakaten (u. a. für die Grünen) einmal ab, trifft man hier auf einen stillen, feinfühligen Grübler, Zweifler und, ja, auch einen Romantiker. Das geht gleich los mit einer frühen Landschaft von 1945, dem „Nächtlichen Zypressenbild“in dezentem Blau. Da ist Beuys 24 und gerade aus dem Krieg heimgekehrt, der sein lebenslanges Trauma bleiben wird.
Die Natur, der Mensch und immer wieder das Tier sind seine Themen, alles Sein hat den gleichen Rang. Da ist er manchmal ganz nah bei Franz Marc, einem weiteren Säulenheiligen des Lenbachhauses. Während sich Marc besonders den Pferden und Rehen zuwendet, sind es bei Beuys die erwähnten Hirsche, oft zart gezeichnet, auch als Skelett, oder in herrlichem Rot aquarelliert, und es sind erst recht die Hasen.
Für Beuys sind sie das „Element der Bewegung, der Aktion, die den starren Kunstbegriff ändern“, und ab den frühen 60er Jahren treibt er sie in sämtlichen Variationen übers Papier bis hin zur goldbrozenen Einfärbung. Dass das die Firma Lindt, deren Goldhase 1952 auf den Markt kam, nie gestört hat, ist eigentlich schade. Beuys, dessen rheinischer Humor von seinen Großexegeten gerne stoisch ignoriert wird, hätte sich bestimmt einen Heidenspaß aus einem Juristen-Geplänkel um die Goldhasen-Rechte gemacht.
Vielleicht sollte man beim Gang durch die Schau gerade den Humor des Künstlers und seine tiefromantische Sehnsucht nach dem Ursprünglichen im Hinterkopf haben. Das erleichtert das Eintauchen in die zum Teil verquaste Gedankenwelt des Schamanen, in die alles Mögliche eingeflossen ist, von der Existenzphilosophie bis zum nicht unproblematischen Rudolf Steiner. Wobei man das im Einzelnen nicht auseinanderzufieseln braucht und oft auch gar nicht kann. Vielmehr darf man hier betrachtend durch Beuys’ Kosmos gleiten, um automatisch aufs Elementare, auf die Natur und ihre Verletzlichkeit zurückgeworfen zu werden. Sei es durch ein „Entchen“, das frech auf dem typischen „Hauptstrom“-Stempel balanciert. Sei es durch einen rotbräunlichen Fettfleck, der ausschaut wie ein verwesendes Blatt oder ein herausgerissenes Herz.
Apropos Herz: Mit den eingangs erwähnten unappetitlichen Objekten ist Schirmer doch noch warm geworden. Drei Jahre nach dem Schock in Kassel hat er die „Bienenkönigin I“nach Hause getragen. Sie sei bis heute die Herzkammer seiner Sammlung, sagt Schirmer, weil sie die schwierige Annäherung markiert. Inzwischen steht das Werk im Beuys-Trakt des Lenbachhauses. Leicht möglich, dass in nächster Zeit auch Papierarbeiten die Seiten wechseln.
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„Einwandfreie Bilder“Bis 18. März, Mi bis So 10 bis 18, Di bis 20 Uhr; Ka talog 39,80 Euro im Museum.