Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Suizid – „die Quintessenz der Moderne“
Gesellschaft Zu Weihnachten nehmen sich angeblich besonders viele Menschen das Leben. Stimmt das? Die Fallzahlen sind jedenfalls hoch. Und was sagt es über den Menschen, dass heute als Akt der Freiheit gilt, was einst Sünde war?
Zunächst gilt es, mit einem düsteren Klischee aufzuräumen. Dass sich ausgerechnet um Weihnachten herum besonders viele Menschen das Leben nehmen, das mag intuitiv einleuchten, weil ohnehin in der kalten, dunklen Jahreszeit und gerade angesichts des verheißenen Idylls des Familienfestes wohl Schmerz und Einsamkeit nicht mehr zu ertragen sein könnten. Aber Studien etwa der Weltgesundheitsorganisation belegen eher das Gegenteil. Erst nach den Festtagen und viel mehr an Silvester und zu Beginn des neuen Jahres steigen demnach die Suizidversuche statistisch „überzufällig an“. Dann, wenn nach dem Innehalten zum Fest das normale Leben in eine Zukunft fortschreiten soll…
Es ist also nicht die Weihnacht, es ist unsere ganze Epoche, in der der Suizid eine besondere Rolle einnimmt. Das belegen viele Zahlen. Die aktuellsten stammen aus dem Jahr 2012. Da starben weltweit etwa 620 000 Menschen durch Gewalt, 120000 in Kriegen, 500000 durch Mord und Totschlag – und mehr als 800000 begingen Selbstmord (offiziell bestätigt, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen). In Deutschland bringen sich jedes Jahr mehr Menschen um, als durch Verkehrsunfälle, Morde, illegale Drogen und AIDS zusammen zu Tode kommen… Man könnte mit vielen Zahlen so weitermachen.
Aber was bedeutet das? Bereits Walter Benjamin prägte in seinem 1982 erschienenen „PassagenWerk“den Schluss: „So erscheint der Selbstmord als die Quintessenz der Moderne.“Und der Wiener Philosoph Thomas Macho fügt nun hinzu: „Die Moderne erscheint in vielfacher Hinsicht als Zeitalter wachsender Suizidfaszination, der zunehmend positiver imaginierten Idee, sich das Leben zu nehmen.“Ist die Welt zu zermürbend, sind die Menschen lebensmüde geworden?
Macho hat unter dem Titel „Das Leben nehmen“dazu eine umfassende Untersuchung veröffentlicht. Und von all den Begriffen, die hier nun auch schon gefallen sind, hat er nicht den kriminalisierenden des „Selbstmords“oder den romantisierenden des „Freitods“gewählt, son- dern mit „Suizid“den neutralsten. Im Laufe der Geschichte vollzieht sich eben eine Umwertung jenes letzten Schritts. Lassen wir all die kulturhistorischen Untersuchungen beiseite, mit denen Macho die meisten seiner Seiten füllt – denn es überrascht ja keinen, dass gerade oftmals hochsensible und prekäre Grenzexistenzen wie Künstler von jeher an die Schwellen des Lebens treten –, dann bleibt weit darüber hinaus: Ein Tabu ist gefallen.
Islamisten mögen das Selbstmord-Attentat zur religiösen Märtyrertat verbrämen. Von sich selbst entzündenden Mönchen bis zu jenem griechischen Rentner, der sich vor fünf Jahren als Protest gegen die Sparpolitik das Leben nahm, mag der Suizid auch als politisches Mittel Relevanz gewonnen haben. Aber viel tiefer in unseren Alltag reicht eine Entwicklung, die sich gerade abseits beabsichtigter Öffentlichkeitswirkung zeigt: im Persönlichen. Denn mutet es nicht heute wie eine Absurdität an, wenn 1941 noch ein Londoner Gericht eine 29-jährige Frau zum Tod am Strang verurteilte, weil sie (erfolglos) versucht hatte, sich mit Schlaftabletten das Leben zu nehmen?
Aber einen Menschen bestrafen, weil er (frei nach Jean Amerys Diskursschrift von 1968) „Hand an sich legte“: Das war im christlichen Abendland lange ein höchstgebotener Akt. Für diese Versündigung gegen das von Gott gegebene Leben wurde auch die ganze Familie in moralische Haftung genommen und mit Ächtung bedacht. Und in Einheit von religiöser und politischer Macht zog auch der Gesetzgeber mit, pfändete Vermögen… Einen Umschwung in Deutschland bewirkte die Faszination des Preußenkönigs Friedrichs II. für Voltaire und die Philosophie der Aufklärung. Da beginnt ein Weg, der spätestens über den Existenzialismus des 20. Jahrhunderts zu einer neuen Antwort auf die Frage führt, die auf der Rückseite von Machos Buch prangt: „Wem gehört mein Leben?“Nämlich: Allein mir selbst.
Oder? Tatsächlich bewegt sich unser Menschenbild auf einem schmalen Grat. Einerseits gibt es mit der Patientenverfügung ein Recht, über das Ende zu bestimmen – andererseits sollen strikte Regeln beim assistierten Suizid dafür sorgen, dass das Lebensende nicht allzu leicht verfügbar wirkt und damit womöglich Druck auf Alte und Kranke entsteht, die Lasten ihrer Existenz nicht zu lange anderen aufzubürden. Einerseits gibt es das heroische Bild des freien, letzten Entschlusses in Film und Literatur – andererseits wird jeder wirkliche Suizid etwa eines Prominenten ausschließlich als Tragödie schlagzeilenträchtig. Und wer ist schon stark genug, den selbst herbeigeführten Tod im privaten Umfeld als Akt der Freiheit zu begreifen und nicht als ein gemeinsames Scheitern, das keiner zu verhindern wusste? Denn das Leben eines Menschen: Wenn es heute für die meisten schon nicht mehr Gott gehört – so doch für zumindest auch denjenigen, die ihn lieben. So scheint es.
Aber je weiter die Moderne mit der für sie charakteristischen Individualisierung fortschreitet, desto vereinzelter lebt der Mensch – aller Konjunktur der sogenannten „Sozialen Netzwerke“im Internet zum Trotz. Desto weniger hält ihn womöglich im und damit am Leben.
Die Freiheit zum Suizid markiert die denkbar größte Freiheit des Einzelnen. Auch über diese letzte Grenze noch selbst zu verfügen, das begründet seine Faszination. Und es bleibt der Skandal der Tat, dieses endgültige Nein. Denn will nicht alles Leben – leben? So viel ist wohl noch heute von den Existenzialisten zu lernen: Der moderne Mensch strebt nach Freiheit – und fühlt sich dann zu ihr verurteilt. Wenn er in der Antike auf den jederzeit möglichen Tod blickte, sollte das zum Begreifen eines wahrhaftigen Lebens führen. Wenn er heute auf das Ende blickt, wirkt der jederzeit offen stehende Notausgang, versehen mit der Aufschrift: „Es ist genug.“Davor muss sich das Heute und das Morgen dann beweisen.
Und genau in diesem Sinne stehen wir mit dem Philosophen Thomas Macho vor einer noch viel größeren Frage: Wer nämlich die Entwicklung des entfesselten Menschen im Verhältnis zu seinen Lebensgrundlagen betrachtet, der kann durchaus den Eindruck gewinnen, dass wir generell unsere Selbstabschaffung betreiben.
Ist die Welt so zermürbend geworden?
Die zwei Seiten der Freiheit
» Thomas Macho: Das Leben nehmen. Suhrkamp, 532 S., 28 ¤