Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (33)
INur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
n unserem Zimmer setzte ich mich auf Ruths Bett am Fenster – die Sonne hatte die Decke gewärmt –, während sie auf meinem Bett an der Wand Platz nahm. Eine Schmeißfliege kreiste durchs Zimmer, und eine Zeit lang machten wir uns einen Spaß daraus, „Schmeißfliegen-Tennis“zu spielen, indem wir mit den Händen fuchtelten, um das durchgedrehte Insekt zwischen uns hin und her zu jagen. Schließlich fand die Fliege den Weg ins Freie, und Ruth sagte:
„Hilfst du mir, Kathy? Ich möchte, dass Tommy und ich wieder zusammenkommen.“Dann fragte sie: „Was ist?“
„Nichts. Ich war nur ein bisschen überrascht, nach allem, was passiert ist. Natürlich helf ich dir.“
„Ich hab’s niemandem sonst gesagt, dass ich Tommy zurückhaben will. Nicht mal Hannah. Du bist die Einzige, der ich vertraue.“„Was soll ich tun?“
„Rede einfach mit ihm. Du hast doch immer einen Draht zu ihm gehabt.
Auf dich hört er. Und er weiß, dass du keinen Mist über mich redest.“
Einen Moment lang saßen wir stumm da und ließen die Füße vom Bett baumeln.
„Gut, dass du damit zu mir kommst“, sagte ich schließlich. „Wahrscheinlich bin ich wirklich die beste Wahl. Um mit Tommy zu reden und so.“
„Ich finde, wir sollten noch mal ganz von vorn anfangen. Wir sind jetzt quitt, wir haben beide Blödsinn gemacht, um uns gegenseitig wehzutun, aber jetzt ist es genug. Diese verdammte Martha H., ich bitte dich! Vielleicht hat er es nur getan, damit ich was zu lachen habe. Na gut, sag ihm, er hat es geschafft, und es steht eins zu eins. Es ist Zeit, dass wir erwachsen werden und einen Neuanfang wagen. Ich weiß, dass du mit ihm reden kannst, Kathy. Du wirst es schon hinkriegen. Falls er dann noch immer nicht bereit sein sollte einzulenken, weiß ich, dass es keinen Sinn mehr mit ihm hat.“
Ich seufzte nur kurz. „Stimmt schon, reden konnten wir schon immer gut miteinander, Tommy und ich.“
„Ja, und er hält enorm viel von dir. Das weiß ich, weil er oft darüber geredet hat. Dass du Schneid hast und dass du keine leeren Worte machst. Einmal sagte er, wenn er mal in der Klemme wäre, würde er sich eher an dich wenden als an einen Jungen.“Sie lachte kurz auf. „Das ist ein echtes Kompliment, das musst du zugeben. Da siehst du’s, wenn uns überhaupt eine retten kann, dann bist du es. Tommy und ich sind füreinander geschaffen, und auf dich wird er hören. Das tust du für uns, ja, Kathy?“
Ich schwieg einen Moment, bevor ich fragte: „Ruth, ist es dir ernst mit Tommy? Ich meine, wenn ich ihn überrede und ihr wieder zusammenkommt, wirst du ihm nicht mehr wehtun?“
Ruth seufzte ungeduldig. „Natürlich ist es mir ernst. Wir sind jetzt erwachsen. Bald werden wir Hailsham verlassen. Wir können keine Spielchen mehr miteinander treiben.“
„Okay. Dann werde ich mit ihm reden. Es stimmt, bald gehen wir fort. Wir haben keine Zeit zu verschwenden.“
Eine Weile saßen wir noch auf den Betten und redeten.
Ruth wollte alles wieder und wieder durchsprechen: wie dumm er doch sei, schließlich passten sie beide wunderbar zusammen, wie sie beim nächsten Mal alles anders machen würden, wie sie sich viel stärker zurückziehen und nur noch am richtigen Ort, zur richtigen Zeit miteinander schlafen würden. Sie suchte zu allem Möglichen meinen Rat. Irgendwann, als ich durchs Fenster zu den Hügeln in der Ferne blickte, erschrak ich, weil Ruth plötzlich neben mir war und mir den Arm um die Schultern legte.
„Kathy, ich hab doch gewusst, dass man sich auf dich verlassen kann“, sagte sie. „Tommy hat Recht: Du hilfst einem, wenn man in der Klemme steckt.“
Aus verschiedenen Gründen fand ich während der nächsten Tage keine Gelegenheit, mit Tommy zu reden. Dann entdeckte ich ihn eines Tages in der Mittagspause am Rand des südlichen Sportplatzes beim Fußballtraining. Er hatte kurz zuvor mit zwei anderen gekickt, war jetzt aber allein und jonglierte geschickt mit dem Ball. Ich ging zu ihm hinüber, setzte mich hinter ihm ins Gras und lehnte mich an einen Zaunpfahl. Es kann nicht lang her gewesen sein, dass ich ihm Patricia C.s Kalender gezeigt hatte und er wortlos davongegangen war, denn ich weiß noch, dass wir nun beide unsicher waren, wie wir denn zueinander standen. Er jonglierte weiter, die Stirn vor Konzentration gerunzelt – Knie, Fuß, Kopf, Fuß –, während ich dasaß, Klee pflückte und zu dem Wald in der Ferne schaute, vor dem wir uns eine Zeit lang so sehr gefürchtet hatten. Schließlich beschloss ich, den toten Punkt zu überwinden, und sagte: „Tommy, komm, lass uns reden. Es gibt etwas, worüber ich mit dir sprechen möchte.“
Augenblicklich ließ er den Ball wegrollen und setzte sich neben mich ins Gras. Das war typisch Tommy: Sobald er merkte, dass ich mit ihm reden wollte, war auf einmal alle Bockigkeit wie weggeblasen; es blieb eine Art dankbarer Bereitwilligkeit, die mich an unsere erleichterte Reaktion als Kinder erinnerte, wenn ein Aufseher, der uns heruntergeputzt hatte, wieder einen normalen Ton anschlug. Tommy keuchte ein bisschen, und obwohl ich wusste, dass die Anstrengung beim Ballspielen der Grund war, steigerte es den Gesamteindruck von Eilfertigkeit. Und mir sträubten sich schon wieder die Haare, noch ehe wir ein Wort gewechselt hatten. Als ich dann sagte: „Tommy, ich weiß schon, dass es dir seit einiger Zeit nicht so toll geht“, antwortete er: „Was soll das heißen? Mir geht’s ganz wunderbar, wirklich.“Und dazu strahlte er breit und lachte betont herzhaft. Das genügte. Jahre später, wenn ich gelegentlich einen blassen Schatten dieser eingeschliffenen Gesten wahrnahm, lächelte ich bloß. Aber damals gingen sie mir wirklich auf die Nerven. Wenn Tommy zum Beispiel sagte: „Das macht mich echt fertig“, musste er dazu eine Leichenbittermiene aufsetzen, um seine Worte zu bekräftigen. Das war nicht etwa ironisch gemeint. Er glaubte wirklich, auf diese Weise überzeugender zu wirken. Und um zu beweisen, dass alles bestens war, sprühte er jetzt vor Leutseligkeit. Wie ich schon sagte, später kam eine Zeit, da fand ich das alles ganz süß; aber damals sah ich in dieser Marotte nur den schreienden Beweis dafür, was für ein Kind er immer noch war und wie leicht man ihn ausnutzen konnte. Ich hatte wenig Ahnung von der Welt, die uns jenseits der Mauern von Hailsham erwartete, aber ich war sicher, wir müssten alle unsere Sinne beisammen haben, um gewappnet zu sein, und daher geriet ich an den Rand einer Panik, wenn Tommy sich so verhielt. Bis zu diesem Nachmittag hatte ich nie etwas darüber gesagt – es schien mir zu kompliziert zu erklären –, aber diesmal platzte ich heraus: „Tommy, du siehst einfach bescheuert aus, wenn du so lachst!
»34. Fortsetzung folgt