Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Heiße Weihnacht
Spanien In dem kleinen spanischen Ort Bérchules werden Heiligabend und Silvester an einem Tag im August gefeiert. Es hat meist über 30 Grad, und doch kommt Weihnachtsstimmung auf / Von Karl Rauch
Cañete ist wirklich Weihnachtsmann. Wenn der quirlige Endfünfziger, der eigentlich José Martín Cañizarez heißt, zusammen mit seinen Mitstreitern das Fest der Feste organisiert, dann pilgern regelmäßig mehr als 10 000 Menschen aus allen Teilen Spaniens in das andalusische Bergdorf Bérchules, um mit den rund 800 Bewohnern zu feiern. Denn dieses Fest ist etwas Besonderes, wird hier doch Weihnachten und Silvester zu einem einzigen rauschenden Festwochenende vermischt. Und zwar im August.
Im August? Nun, die Geschichte reicht in das Jahr 1994 zurück. Cañete und seine Freunde erinnern sich immer wieder gerne daran, wenn sie auf der Bank beim großen Marienbrunnen plaudernd den lauen Sommerabend genießen. Die Geschichte beginnt mit einem Stromausfall ausgerechnet Ende Dezember, wenn die stimmungsvolle Nochebuena und die ausgelassene Nochevieja gefeiert werden. Nochebuena – die „gute Nacht“– wird der Heilige Abend genannt und Nochevieja – die „alte Nacht“– ist die Silvesternacht. Da saßen sie nun in der nur von Kerzenlicht spärlich erleuchteten Dorfwirtschaft beim Wein zusammen und trauerten um die Festtage. Einer in der Runde hatte die Idee: „Wir holen die Feste im Sommer nach!“Am ersten Augustwochenende.
Das Datum war gut gewählt. Denn Sommer ist hier Familienzeit. Wie vielerorts in Andalusien waren in den 60er und 70er Jahren die jungen Leute weggegangen. Der Süden Spaniens hatte zu wenig Arbeit für alle, während im Norden Arbeitskräfte gesucht wurden.
Nun kehren sie alle wieder zu ihrer Sommerweihnacht aus allen Teilen Spaniens und Europas zurück. So wie Dolores Molina. Ihr Mann Antonio und sie waren in den 70er Jahren nach Barcelona ausgewandert, wo er als Taxifahrer und sie als Näherin vier Söhne großzogen. Das Leben fand im Norden statt, doch „unser Herz schlägt in Bérchules“, erzählt Dolores. Mindestens einmal im Jahr ruft „nuestra tierra“, „unsere Heimat“. Seit ihr Mann nicht mehr lebt, nimmt Dolores allein die mühselige Fahrt im Kleinbus auf sich. Gut 900 Kilometer nonstop. Die Söhne und deren Familien kommen nach.
Viele machen das so. Doch mittlerweile lockt dieses Weihnachten im August immer mehr Menschen an. „Es sind mehr als 12 000 Besucher“, schwärmt Cañete. Das liegt bestimmt auch an der Herzlichkeit der Menschen in den Alpujarras. Fremde bleiben hier nicht lange fremd. Für den Besucher kann der Überblick rasch verloren gehen, wenn er Antonio, Pepe, Carmen, Conchi, Montse, Francisco, Paqui und viele andere kennenlernt, die sich alle gegenseitig als Neffe, Cousine, Tante, Onkel in jedem erdenklichen Verwandtschaftsgrad vorstellen. Familie ist eben wichtig. Das passt zur Weihnachtsstimmung, die tatsächlich trotz der 30 Grad im Schatten so langsam aufkommt.
In dem sonst so stillen Bergdorf mit seinen weißen Häusern und steilen Gassen, stehen die Zeichen ganz unvermittelt auf „navidad“– Weihnachten. Leuchtschriften über den Straßen wünschen „felices fiestas“, ein frohes Fest. Und vor dem Rathaus grüßt über Nacht ein riesiger Christbaum ins Tal. Eine Pyramide aus Eisen und Draht mit grünen Girlanden, Lichterketten und einem riesigen Stern an der Spitze.
Auf Plätzen, in Höfen oder in den Häusern entstehen ausladende Krippenlandschaften. Imma Soto, unterstützt von Eltern, Schwiegereltern und Kindern, verwandelt ihren Hof in eine solche weihnachtliche Szenerie. Keine Krippe, wie wir sie kennen. „Das ist das Leben in den Alpujarras“, erklärt sie stolz und zeigt auf die vielen kleinen Szenen. Da gibt es neben den üblichen Krippenbewohnern Jesuskind, Maria, Josef, Engeln, Ochs, Esel und den drei Königen auch erfrischende Alltagsszenen: spielende Kinder, ein paar Leute, die um einen gedeckten Tisch sitzen, oder eine häkelnde Oma.
Noch während Imma Soto die Szenen erklärt, ziehen die Damen des Kirchenchors vorbei. Begleitet vom Summen eines Brummtopfes und klingenden Tamburins werden Weihnachtslieder angestimmt. Fromme, wie wir sie auch kennen, aber auch die fröhliche spanische Sorte. Weniger andächtig. In flottem Rumba-Flamenco-Rhythmus. Da wird geklatscht, getrommelt und getanzt. Natürlich singen alle mit.
Neben jeder Krippe ist ein Tischchen mit dem sogenannten „Aguinaldo“angerichtet. Eine kleine Aufwartung mit Anislikör, Nüssen, Obst und Naschereien. Der Aguinaldo, ursprünglich als weihnachtliches Dankeschön für Postboten, Hausmeister, Zeitungsträger oder Müllmänner gedacht, wird in Bérchules zur Einladung für alle.
Der eigentliche Festtag, an dem Weihnachten und Silvester in Bérchules zusammengeführt werden, erfordert von allen Durchhaltevermögen. Denn schon am Vorabend wird im Dorf gefeiert. Der Ort ist für Autos gesperrt, fliegende Händler haben in der Hauptstraße ihre Buden aufgebaut, vor dem Rathaus wird eine große Party mit Liveband gefeiert. Sie beginnt, wie in Spanien üblich, nach Mitternacht und dauert bis zum Morgengrauen. Die Sonne geht hier im August erst gegen 7.15 Uhr auf. Der letzte Stopp auf dem Heimweg ist aber traditionell beim Händler, der Churros con Chocolate – Schmalzkringel mit heißer Schokolade – als Muntermacher verkauft.
Trotz der langen Nacht: Ab 9 Uhr beginnt für Cañete der schönste Teil des Festes. Da kann er sich trotz blauem T-Shirt und kurzer Hose ganz als Weihnachtsmann fühlen. Seine Helfer vom Festkomitee und er beladen ein Maultier mit Süßigkeiten und ziehen damit durchs Dorf. Begleitet von einer Charanga, einer kleinen Blaskapelle. Vom tiefer gelegenen Ortsteil Alcútar durch die Gassen bis ganz nach oben in Bérchules und zurück. Jeder soll seine Portion Mantecado bekommen. Mantecado, das ist gebackenes reines Marzipan. Am Ende des Tages werden Cañete und seine Freunde etwa 2000 Kilo der Leckerei verteilt haben. Gesponsert übrigens vom größten Weihnachts-Naschwarenhersteller Spaniens. Später werden sich noch drei Reiter als die Heiligen Drei Könige dazugesellen.
Am Eckhaus auf dem Weg zur Kirche hat das Festkomitee einen Laden geöffnet. Im Schaufenster lockt alles an süßer Verführung, was die spanische Weihnacht zu bieten hat, aufwendig verpackt. Vor allem
Mantecado und Polvorones. Eine mehlige, süße Leckerei mit Mandeln, Kakao, Zimt oder Kokos. Und
Turrón, bei uns besser bekannt als türkischer Honig.
Ob Cañete, Antonio, Dolores, Paqui, Marta oder Fran: Jeder schickt Neuankömmlinge in diesen Laden. Denn hier kann man alles Zubehör erstehen, das für das komplette Festwochenende benötigt wird. Für drei Euro gibt es eine kombinierte Weihnachts-/Neujahrstüte. Sie enthält alles, was fürs Fest gebraucht wird: eine rote WeihnachtsmannMütze und ein Rentiergeweih zum Aufsetzen, Kugelschreiber mit Erinnerungsaufdruck, Mantecado und zwölf Trauben. Ohne die ist eine Silvesterfeier in Spanien überhaupt nicht möglich. „Uvas de suerte“, Glückstrauben, werden sie genannt und um Mitternacht dringend benötigt. Mit jedem Glockenschlag wird eine geschluckt. Bringt Glück, heißt es – wenn man sich nicht verschluckt. Wer keine Trauben mag, der findet in der Tüte zwölf Weingummis in Traubenform. Wahlweise Rosinen, sind ja auch Trauben.
Auf der Straße winkt das Glück: Losverkäufer bieten Coupons für die chancenreichste Lotterie der Welt an, die spanische Weihnachtslotterie. Diese Lose gibt es sonst nirgendwo in Spanien bereits im August. Auch der Pfarrgemeinderat verkauft welche. Die Werbung dafür hängt am Aushang in der Pfarrkirche. Gleich neben den Plakaten mit dem Bild von San Pantaleón, einem der 14 Nothelfer. Hilft der auch beim Losglück?
Bérchules füllt sich. Dolores Molina aus Barcelona hat, wie andere Familien auch, in ihrem Elternhaus nahe der Kirche für eine große Gästeschar aufgekocht. Familienabend mit Cordero (Lamm), Cochinillo (Ferkel), Pata Negra (Schinken vom Schwarzfußschwein), Kroketten und Süßigkeiten.
Der Rest des Abends und der Nacht findet draußen statt. Auf der Hauptstraße vom Ortseingang bis zum Kirchplatz ist vor Mitternacht fast kein Durchkommen mehr. Jeder will möglichst nah am zentralen Ort des Geschehens sein. Vom Dach des Gasthauses grüßt ein bunt beleuchteter Aufblas-Schneemann, aus einer Schneekanone wirbeln die Flocken über die Menge. Neben dem Kirchenportal wiegt sich ein riesiger Ballon-Weihnachtsmann im Wind. Aus den Lautsprechern tönt es von „White Christmas“bis „Feliz Navidad“weihnachtlich durch die laue Sommernacht.
Mitternacht. Zu den Glockenschlägen kommen die Glückstrauben zum Einsatz, Sektkorken und Feuerwerk knallen um die Wette. Alle liegen sich in den Armen und wünschen sich ein glückliches Jahr. Na ja, nicht ganz. Hier wünschten sich heuer alle „feliz año 2017 y medio“– ein glückliches 2017einhalb. Und jetzt im Dezember, wenn alle Weihnachten feiern? Da wird im verschneiten, hoch gelegenen andalusischen Bergdorf Bérchules Weihnachten gefeiert wie bei uns. Ohne den großen Trubel. Aber nächstes Jahr am 4. August werden sich alle in Bérchules ein glückliches „2018 einhalb“wünschen. Weihnachtsmann Cañete kann es schon kaum erwarten.
Ganz unvermittelt stehen die Zeichen auf „navidad“
Und alles begann mit einem Stromausfall