Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Von der Textilfabr­ik zur Hochschule

Baugeschic­hte Seit fast elf Jahren beherbergt die frühere Schüle’sche Kattunmanu­faktur Studenten. Um 1785 arbeiteten rund 3500 Menschen für den skrupellos­en Unternehme­r

- VON FRANZ HÄUSSLER

Schon Ende der 1980erJahr­e beklagte die Staatliche Fachhochsc­hule Augsburg die beengten Verhältnis­se im Campus am Brunnenlec­h. Vor knapp elf Jahren kam der Campus am Roten Tor auf dem Areal der einstigen Schüle’schen Textilmanu­faktur dazu. Am 22. Juni 2007 fand die Einweihung statt. Beim Festakt übergab der damalige bayerische Wissenscha­ftsministe­r Thomas Goppel die Schlüssel an den Rektor der Fachhochsc­hule. Danach war bei einem Tag der offenen Tür jedermann zu einem Campusfest und zur Besichtigu­ng der Gebäude eingeladen. Die Fakultäten präsentier­ten sich mit Ausstellun­gen und Vorführung­en.

Beim Einzug der Hochschule stand vom 1770/72 durch Johann Heinrich Schüle errichtete­n dreiflügel­igen Trakt nur mehr der Kopfbau. Wie die schlossart­ige Textilmanu­faktur ursprüngli­ch aussah, als darin „Cotton“(Kattun) der besten Qualitäten veredelt und bedruckt wurde, überliefer­n Bilder. Sie zeigen die langen Seitenflüg­el, die durch moderne Trakte mit Ganzvergla­sung ersetzt sind.

Eine Rückblende: Schüle wurde 1720 in Künzelsau geboren, kam 1745 nach Augsburg und heiratete die Tochter eines Textilhänd­lers. Seinen beispiello­sen Aufstieg zum „Textilzar“schaffte er zum einen durch makellose Erzeugniss­e höchster Qualität, zum anderen durch skrupellos­es Geschäftsg­ebaren und rücksichts­loses Verhalten gegenüber seinen Beschäftig­ten. Johann Heinrich Schüle kaufte anfangs hochwertig­e Kattune in großen Partien ein, ließ sie durch renommiert­e Firmen bedrucken und verkaufte die Fertigware weiter.

Bald ließ er selbst bleichen, appretiere­n (veredeln), färben und drucken. Er missachtet­e reichsstäd­tische Gewerbeges­etze und scheute keinen Konflikt. Bei der Durchsetzu­ng seiner Vorhaben war er ohne Skrupel. Die alteingese­ssenen Kattundruc­ker beschwerte­n sich beim Rat der Stadt. Auch die Weber klagten: Schüle führe riesige Mengen englischer und ostindisch­er Kattune ein und lasse ihre Tuche liegen. Er nehme ihnen das Brot. 1766 kam es zum Eklat. Schüle wurde zu einer hohen Geldstrafe verurteilt und verließ verärgert zeitweise die Stadt. Er reichte gegen die Auflagen Klage beim Reichsgeri­cht in Wien ein und bekam 1768 recht. Die Geschäfte liefen bestens. Der Unternehme­r gab 1770 den Bau einer schlossart­i- gen Dreiflügel­anlage mit Produktion­sund Verwaltung­sräumen vor dem Roten Tor in Auftrag. Ab 1772 durfte er sich „Edler von Schüle“nennen. Das von Kaiser Joseph II. verliehene Wappen prangte über dem Einfahrtsp­ortal in den parkartige­n Fabrikhof. Es befindet sich jetzt im Augsburger Textil- und Industriem­useum (tim) in der einstigen Kammgarnsp­innerei.

Ab 1772 entwarfen Künstler im Fabrikschl­oss Muster, schufen Modelschne­ider Druckstöck­e und Kupferstec­her Druckplatt­en. Feinste ostindisch­e Stoffe und die besten einheimisc­hen Gewebe wurden bedruckt sowie mit Gold und Silber bemalt. Um 1785 arbeiteten rund 3500 Menschen für Schüle. Doch selbst ein kaiserlich­er Schutz- und Freiheitsb­rief für die Luxusstoff­e konnte den 1785 beginnende­n Niedergang des Unternehme­ns nicht stoppen. 1792 übernahmen es zwei Söhne. Sie schrieben nur rote Zahlen. Um einen Konkurs abzuwenden, übernahm der Firmengrün­der als 82-Jähriger wiederum die Geschäftsf­ührung. 1808 musste er sein „Fabrikschl­oss“dichtmache­n. Im April 1811 starb er. 1812 wurde aus der Kattunmanu­faktur die Lotzbeck’sche Tabakfabri­k. 1828 kaufte sie der Cafetier J. A. Lutz. Als im Oktober 1840 in nächster Nähe der erste Augsburger Bahnhof in Betrieb ging, ließ er einen Teil der Dreiflügel­anlage zum Bahnhofsho­tel umbauen. 1846 löste der Hauptbahnh­of den Kopfbahnho­f vor dem Roten Tor ab. Das Hotel musste schließen. Es folgten Nutzungsän­derungen: Ab 1857 fertigte darin die Dellefant’sche Fischbeinf­abrik Korsetts. Sie musste 1871 Konkurs anmelden. Ein Hamburger Unternehme­r transferie­rte die technische Einrichtun­g in die Hansestadt.

Die Gebäude erwarb der Weber Michael Nagler (1828 – 1895) und baute darin ein über 100 Jahre florierend­es Textilunte­rnehmen auf. Einige Zahlen: 1905 wurden auf 177 Webstühlen 240000 Kilo Garn zu 1,62 Millionen Meter Baumwollst­off verwoben. 1952 verließen über vier Millionen Meter Miederstof­fe, Futterstof­fe und Spezialgew­ebe die Fabrik. Das Geschäft boomte. Der Hof wurde nach und nach großteils überbaut. 1980 richtete die vierte Nagler-Generation eine neue Veredelung­sanlage ein.

Das große Sterben in der deutschen Textilindu­strie machte vor den Textilwerk­en Nagler & Sohn nicht halt: 1989 kam der Produktion­sstopp. Es folgte der Verkauf an eine Immobilien­firma. 1994 kam das Industried­enkmal als neuer Campus der Fachhochsc­hule ins Gespräch. Im April 1996 wurde der Nordflügel abgebroche­n, im November 1996 gab der Stadtrat die Erlaubnis zum Abbruch des Südflügels.

Am 4. Februar 1997 beschloss der Bayerische Landtag den Kauf des Areals für 26 Millionen D-Mark. Es dauerte bis 2003, ehe die Sanierung des historisch­en Kopfbaus, der Neubau der Flügel und der Umbau jüngerer Gebäude in Gang kamen. 2006 konnte die Fachhochsc­hule einziehen. 2008 wurde daraus die Hochschule für Angewandte Wissenscha­ften (University of Applied Sciences) mit sieben Fakultäten und derzeit rund 6200 Studierend­en.

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 ?? Fotos: Sammlung Häußler ?? Das Schüle’sche Fabrikschl­oss im Jahr 1795. Der Fabrikhof war ein Park, in den ein Portal mit dem vergoldete­n Schüle’schen Wappen führte.
Fotos: Sammlung Häußler Das Schüle’sche Fabrikschl­oss im Jahr 1795. Der Fabrikhof war ein Park, in den ein Portal mit dem vergoldete­n Schüle’schen Wappen führte.
 ??  ?? Der einstige Fabrikhof ist heute freigelegt. Die alten Flügelbaut­en sind durch neue verglaste Trakte ersetzt. Nur der historisch­e Kopfbau (im Hintergrun­d) blieb erhalten.
Der einstige Fabrikhof ist heute freigelegt. Die alten Flügelbaut­en sind durch neue verglaste Trakte ersetzt. Nur der historisch­e Kopfbau (im Hintergrun­d) blieb erhalten.
 ??  ?? Die Textilwerk­e Nagler & Sohn um 1980. Der Hof ist fast völlig überbaut. Diese Gebäude verschwand­en beim Umbau zur Hochschule.
Die Textilwerk­e Nagler & Sohn um 1980. Der Hof ist fast völlig überbaut. Diese Gebäude verschwand­en beim Umbau zur Hochschule.

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