Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Warum sich die SPD erneuern muss
Debatte Unter Martin Schulz reiten sich die Genossen immer tiefer in die Krise. Die internen GroKo-Kritiker haben in vielem recht. Aber sie begehen einen entscheidenden Denkfehler
Die SPD bietet ein Bild des Jammers: Viele ihrer Spitzengenossen stehen noch immer unter Schock, wie knapp das Ergebnis des Bonner Parteitags ausgefallen war, Verantwortung für Deutschland in einer Welt voller Krisen zu übernehmen. Die parteiinternen Gegner der GroKo fühlen sich dagegen durch die große Zahl der Nein-Stimmen hoch motiviert, eine Neuauflage der Regierung unter Kanzlerin Angela Merkel doch noch mithilfe der Basis zu verhindern.
Die Koalitionsgegner treiben mit Neumitglieder-Werbung die Parteiführung vor sich her: Die SPDSpitze fühlt sich inzwischen gezwungen, Neumitgliedern mit einer Stichtagsregelung die Beteiligung am wichtigsten Mitgliederentscheid des Jahrzehnts zu verbieten. Viel tiefer kann eine Partei nicht sinken.
Nie zuvor war die Regierungsfähigkeit der SPD – und damit die Grundlage ihrer Daseinsberechtigung – derart infrage gestellt. Natürlich verfügt die SPD über eine große Zahl erfahrener Realpolitiker, um jederzeit eine Bundesregierung übernehmen zu können. Doch will das die Partei noch?
Die Gegner der Regierungsbeteiligung haben in wichtigen Punkten recht: Die SPD braucht eine grundlegende Erneuerung. Und sie ziehen auch nicht den oberflächlichen Fehlschluss, sich dabei auf Personen zu konzentrieren, wie es in der schnelllebigen Welt üblich ist.
Der anfängliche Hype um Martin Schulz hat die Partei zunächst eingelullt: Ihre Positionen seien sexy, wenn der richtige Kandidat an der Spitze steht. Der Schulz-Effekt hat aber auch das genaue Gegenteil bewiesen: Denn als Schulz keinerlei überzeugende Inhalte mehr liefern konnte, stürzten die SPD-Werte rasant auf ein historisches Tief. Dieser offen zutage getretene Mangel an Ideen für die Zukunft des Landes ist ein erbärmliches Zeugnis für die deutsche Sozialdemokratie, die vom Selbstverständnis her den Begriff der Programmpartei noch über den der Volkspartei stellt.
Die SPD-Realpolitiker verwiesen in ihrem „Gerechtigkeits“-Wahlkampf auf ihre Leistungen in der Regierung, wie den Mindestlohn oder die „Rente mit 63“. Doch die Politik kennt keine Dankbarkeit für Leistungen der Vergangenheit. Nur der Blick nach vorn zählt.
Dieses Prinzip gleicht der Welt der Wirtschaft, wie das Phänomen Nokia zeigt: Vor einem Jahrzehnt verkündete der damals größte Handyhersteller der Welt mit jeder Bilanz neue Verkaufsrekorde. Doch jedes Mal brach am gleichen Tag der Aktienkurs ein. Die Anleger vermissten neben den Zahlen ein vertrauenswürdiges Konzept für die Zukunft. Heute weiß man: Sie hatten recht. Nokia ging in der Bedeutungslosigkeit unter.
Auch den meisten Wählern war egal, was die SPD in den vier Jahren zuvor durchgesetzt hat oder nicht. Viele Menschen vermissten das, worauf es ankommt: Hat die SPD für sie persönlich die besten Antworten für die Zukunft?
Als die SPD vom Jamaika-Aus überrumpelt an den Verhandlungstisch gerufen wurde, zeigte sich, dass diese Inhaltsleere kein Marketingproblem eines missglückten Wahlkampfes war, sondern Wirklichkeit. Hektisch wurde aus Schubladen das verstaubte Konzept „Bürgerversicherung“gekramt. Dabei herrschen im Gesundheitssystem heute – etwa im Krankenhauswesen – ganz andere Probleme, unter denen die Bürger wortwörtlich zu leiden haben. Ähnlich ist es bei den Zukunftsherausforderungen der Integration, Digitalisierung, Bildung, Sicherheit oder Europapolitik. Doch auf keinem dieser Felder kann die SPD konkrete Ideen bieten, die breite Bevölkerungsgruppen überzeugen.
Allerdings begehen die parteiinternen Koalitionsgegner einen verhängnisvollen Denkfehler in ihrer Schlacht, die momentan das öffentliche Bild der SPD massiv beschädigt. Die Kritiker denken, dass die überfällige inhaltliche Erneuerung der SPD nur in der Opposition möglich sei. NordrheinWestfalens Jusos sollten mal nach Bayern fahren: Hier können sich die Sozialdemokraten inzwischen seit 61 Jahren in der Opposition erneuern, ohne jemals wieder eine Wahl gewonnen zu haben. Die CSU erneuerte sich dagegen, immer wenn nötig, selbst an der Macht. Auch wenn ihr das in letzter Zeit zunehmend schwerfallen mag.