Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (67)
INur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
ch muss das wohl ausführlicher erklären. Natürlich hatte ich damit gerechnet, dass sie ein wenig überrascht wäre. Aber es war mehr: Nachdem sie den ersten Schrecken überwunden und erkannt hatte, dass ich es war, starrte sie mich gut eine Sekunde, vielleicht länger, nicht gerade mit Furcht, wohl aber mit tiefem Argwohn an. Es schien, als hätte sie seit langem darauf gewartet, dass ich ihr etwas antat, und fürchtete, jetzt sei es so weit.
Im nächsten Moment war der Ausdruck wieder verschwunden, und wir benahmen uns wie immer, doch das Erlebnis hatte uns beide aufgerüttelt. Mir war klar geworden, dass Ruth mir nicht traute, und meinem Gefühl nach war sie sich bis zu diesem Augenblick darüber selbst nicht so recht im Klaren gewesen. Jedenfalls wurde von dem Tag an die Atmosphäre zwischen uns noch schlimmer. Es war, als hätten wir etwas offen ausgesprochen, das nicht etwa die Luft wieder gereinigt hatte, sondern uns im Gegenteil
deutlicher denn je zu Bewusstsein brachte, wie viel zwischen uns stand. Es kam so weit, dass ich vor jedem Besuch bei ihr noch mehrere Minuten im Auto saß und mich innerlich für die bevorstehende Tortur wappnete. Einmal, als wir in eisigem Schweigen sämtliche Untersuchungen absolviert hatten und dann in noch undurchdringlicherem Schweigen einfach nur dasaßen, war ich fast schon bereit zu melden, es habe nicht geklappt mit uns, ich könne nicht länger ihre Betreuerin sein. Aber dann wurde wieder alles anders, und zwar wegen des Bootes.
Gott weiß, wie es so geht. Manchmal ist es ein bestimmter Witz, manchmal ein Gerücht. Es greift von einem Zentrum auf das nächste über, breitet sich innerhalb weniger Tage im ganzen Land aus, und auf einmal spricht jeder Spender davon. Diesmal war es dieses Boot. Zum ersten Mal hatte ich über meine Spender in Nordwales davon gehört. Ein paar Tage später fing Ruth damit an. Anfänglich war ich er- leichtert, dass wir ein Gesprächsthema gefunden hatten, und ermutigte sie, weiterzuerzählen.
„Der Junge in der Etage über mir“, sagte sie. „Sein Betreuer hat es sogar mit eigenen Augen gesehen. Er sagt, es ist nicht weit von der Straße, so dass jeder ohne viel Mühe hinkommt. Es liegt da einfach herum: gestrandet im Sumpf.“
„Wie ist es dort hingekommen?“, fragte ich.
„Woher soll ich das wissen? Vielleicht wollten seine Besitzer es loswerden. Oder vielleicht wurde es bei Hochwasser hergeschwemmt und kam dann nicht mehr fort. Wer weiß es? Angeblich ist es ein altes Fischerboot. Mit einer kleinen Kabine, in der bei Sturm ein paar Männer notfalls Unterschlupf finden.“
Bei meinen nächsten Besuchen brachte sie es immer wieder fertig, das Gespräch auf das Boot zu lenken. Eines Nachmittags, als sie mir erzählte, eine der anderen Spenderinnen sei von ihrem Betreuer eigens dort hingefahren worden, erwiderte ich:
„Weißt du, besonders nahe ist es nicht gerade. Es ist mindestens eine Stunde Fahrt, vielleicht eineinhalb.“
„Ich wollte dich zu nichts nötigen. Ich weiß, dass du noch andere Spender zu betreuen hast.“
„Aber du würdest es gut finden, nicht wahr. Du würdest dieses Boot gern selbst einmal sehen, oder, Ruth?“
„Kann sein. Ja, wahrscheinlich. Hier ist man doch tagein, tagaus immer nur eingesperrt. Es wäre schon nett, wenn man mal so was zu sehen bekäme.“
„Und kann es auch sein“– das sagte ich freundlich, ohne eine Spur von Sarkasmus, „dass wir, wenn wir den ganzen weiten Weg fahren, vielleicht auch Tommy besuchen sollten? Nachdem sein Zentrum doch ganz in der Nähe der Stelle ist, wo angeblich dieses Boot liegt?“
Zuerst verzog Ruth keine Miene. „Das könnten wir wohl erwägen“, sagte sie. Dann lachte sie und fügte hinzu: „Ehrlich, Kathy, das war nicht der einzige Grund, weshalb ich dauernd von diesem Boot geredet habe. Ich möchte es tatsächlich gern einmal anschauen. Die ganze Zeit über hieß es ja für mich nur: rein in die Klinik, raus aus der Klinik. Dann hier drin gefangen. Da sind Abwechslungen viel wichtiger als früher. Aber du hast Recht, ich hab es gewusst. Ich wusste, dass Tommy im Kingsfield-Zentrum ist.“
„Bist du sicher, dass du ihn treffen willst?“
„Ja“, sagte sie, ohne zu zögern, und sah mich fest an. „Ja, das will ich.“Und fügte leise hinzu: „Ich hab ihn wirklich schon lange nicht mehr gesehen. Seit den Cottages nicht mehr.“
Und nun sprachen wir endlich über Tommy. Wir gingen nicht sehr in die Tiefe, und ich erfuhr kaum etwas, das ich nicht schon vorher gewusst hätte. Aber ich glaube, nach diesen Gesprächen fühlten wir uns beide besser. Sie und Tommy hätten einander aus den Augen verloren, erzählte Ruth, nachdem sie im Herbst die Cottages verlassen habe, kurz nach mir.
„Unsere Ausbildung haben wir ohnehin an verschiedenen Orten absolviert“, sagte sie, „und da schien uns eine förmliche Trennung überflüssig. Also blieben wir einfach zusammen, bis ich fortging.“
Und bei dieser Feststellung beließen Ruth und ich es vorläufig. Was die Bootsbesichtigung betraf, sagte ich weder Ja noch Nein, als das erste Mal die Rede davon war. Aber im Lauf der nächsten Wochen sprach Ruth immer wieder darüber, und irgendwie nahmen unsere Pläne konkretere Form an, bis ich schließlich über eine Kontaktperson eine Nachricht an Tommys Betreuer schickte, in der ich diesen wissen ließ, dass wir uns in der kommenden Woche, an einem bestimmten Nachmittag im Kingsfield einfinden würden, sofern wir nicht vorher von Tommy etwas Abschlägiges hören würden.
Kapitel 19
Bis zu diesem Zeitpunkt war ich kaum einmal im Kingsfield gewesen, so dass Ruth und ich unterwegs häufiger die Landkarte zurate ziehen mussten und uns dennoch um mehrere Minuten verspäteten. Im Vergleich zu anderen Erholungszentren ist es nicht besonders gut ausgestattet, und ohne die Erinnerungen, die es jetzt für mich birgt, wäre es keine Einrichtung, die ich gern besuchen würde. Das Kingsfield liegt sehr abseits und ist schwer zu erreichen, und wenn man endlich dort eintrifft, hat man eigentlich auch nicht den Eindruck von Ruhe und Frieden, denn Tag und Nacht hört man den Verkehr von den großen Straßen jenseits des Zauns und hat das Gefühl, dass sie mit dem Umbau der Anlage nie so ganz fertig geworden sind. Viele Spenderzimmer sind für Rollstuhlfahrer unzugänglich, in anderen zieht es entweder ständig, oder es ist zu heiß und stickig. Es gibt nicht annähernd so viele Badezimmer, wie nötig wären, und die wenigen vorhandenen sind schwer sauber zu halten, im Winter eiskalt und meist zu weit von den Spenderzimmern entfernt. »68. Fortsetzung folgt