Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Test bestanden
Bundestag Die Abstimmung über den Familiennachzug von Flüchtlingen wird zum Probelauf für eine Koalition, die es noch gar nicht gibt. Wie es ausging und was die Opposition davon hält
Berlin Draußen, vor dem Reichstagsgebäude, demonstrieren Betroffene. Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak, die alleine den Weg nach Deutschland geschafft hatten, fordern den Nachzug ihrer Ehefrauen und Kinder. „Wir sind Menschen“, skandieren sie lautstark. Drinnen, im weiten Rund des Plenarsaals, prallen derweil einmal mehr die unterschiedlichen Ansichten in einer hitzigen, kontroversen und emotionalen Debatte aufeinander. Der Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutz spaltet die Gemüter im Hohen Haus. Während die AfD eine komplette Abschaffung des Nachzugs sowie eine konsequente Rückführung der Flüchtlinge fordert, verlangen Grüne und Linke eine grundsätzliche Zulassung.
Zwischen diesen beiden Extrempositionen bewegen sich Union und SPD, die sich erst am Dienstag auf einen gemeinsamen Kompromiss geeinigt hatten. Die zweijährige Aussetzung des Familiennachzugs wird bis 31. Juli fortgesetzt, danach sollen aus humanitären Gründen pro Monat bis zu 1000 Angehörige aufgenommen werden, zudem wird es in Einzelfällen eine Härtefallregelung geben. Die genauen Details dieser Regelung müssen allerdings erst noch in einem Gesetzgebungsverfahren ausgehandelt werden. Für diesen Kompromiss stimmten gestern in namentlicher Abstimmung 376 von 678 Abgeordneten, 298 lehnten die Regelung ab, vier enthielten sich der Stimme.
Die Botschaft war eindeutig: Die Große Koalition funktioniert schon, obwohl sie noch gar nicht im Amt ist. Während die Unterhändler von CDU, CSU und SPD mit Hochdruck in den insgesamt 18 Arbeitsgruppen einen neuen Koalitionsvertrag aushandeln und sich Schritt für Schritt in so gut wie allen Themenbereichen annähern, bestand das alte und wahrscheinlich auch neue Regierungsbündnis die erste große Bewährungsprobe und trat im Bundestag geschlossen auf. Seite an Seite verteidigten Christ- und Sozialdemokraten ihren Kompromiss gegen die harsche Kritik von links wie von rechts.
Den Anfang macht Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Die Neuregelung verbinde „Humanität und Verantwortung“, sagt er, die meisten Praktiker in den Städten und Gemeinden würden sie begrüßen, nur Idealisten hingegen als zu streng kritisieren. Dass der Kompromiss von Union und SPD unterschiedlich bewertet werde, sei normal. „Jeder will zeigen, dass er gut verhandelt hat.“An die SPD appel- liert er, sich trotzdem zum Inhalt der gemeinsamen Vereinbarung zu bekennen. „Es ist eine Lösung, die befriedet“, zumal sie bei allen Einschränkungen auch „mit ein bisschen Großzügigkeit, ein bisschen Barmherzigkeit“verbunden sei. Der Innenexperte der Unionsfraktion, der CSU-Abgeordnete Stephan Mayer, sagt, Union und SPD hätten eine „tragfähige, sachgerechte und verantwortungsbewusste Lösung“gefunden. Trotz des Kontingents von monatlich 1000 Personen werde es keine Erhöhung der Nettozuwanderung geben, da ab 1. August die Verpflichtung Deutschlands auslaufe, monatlich jeweils 500 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien aufzunehmen.
Für die Annahme des Kompromisses werben auch die Innenexperten der SPD, Eva Högl und Burkhard Lischka. „Niemand macht es sich einfach“, sagt Högl an die Adresse der Kritiker, die Neuregelung schaffe die Bedingungen für eine legale, sichere und geordnete Einreise, zudem sei sie gut für die Integration. Entscheidend sei, dass es ab dem 1. August wieder Familiennachzug gebe und dass bereits ab jetzt Anträge gestellt werden könnten, „die zügig bearbeitet werden“.
Dagegen wirft der AfD-Abgeordnete Christian Wirth der Regierung vor, unverändert einen „eklatanten Rechtsbruch“zu betreiben. Die Familienzusammenführung solle nicht in Deutschland, sondern in Schutzzonen in den Herkunftsländern oder in Lagern in anderen Ländern stattfinden. „Das Wichtigste ist die Rückführung“. Der FDP-Innenexperte Stephan Thomae aus dem Allgäu wirft Union und SPD vor, weder beim Nachzug noch bei den Härtefällen klar definiert zu haben, wer davon profitiere. „Sie erzeugen Warteschlangen bei den Härtefällen, weil es keine Priorisierung gibt.“
Linke und Grüne fordern dagegen ein Ende der Aussetzung. Der Kompromiss sei „ein Trauerspiel zulasten der Menschen“, sagt der Fraktionschef der Linken, Dietmar Bartsch. Die SPD habe „unsagbar schlecht verhandelt“. Und GrünenFraktionschefin Katrin GöringEckardt bemängelt, die Große Koalition mache aus dem Familiennachzug ein „Gnadenrecht“. „Ein bisschen Barmherzigkeit gibt es nicht, jeder Fall ist ein Härtefall.“Jeder Abgeordnete solle sich fragen, wie er sich verhalten würde, wenn es um seinen eigenen Ehepartner oder seine eigenen Kinder gehe.
Von links und rechts gibt es harsche Kritik