Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das Erbe von Stalingrad lastet noch heute auf der Stadt

Zeitgeschi­chte Hunderttau­sende verloren ihr Leben: In Wolgograd ist die Erinnerung an die bedeutende Weltkriegs­schlacht allgegenwä­rtig

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Wolgograd Riesige Schneefloc­ken wirbeln auf die Inschrifte­n der Grabsteine, die eisige Luft macht das Atmen schwer. Die Stille an dem Hügel im einstigen Stalingrad wird nur durch den zügigen Stechschri­tt der russischen Soldaten unterbroch­en, die zur Wachablöse am Ewigen Feuer herbeimars­chieren. Das riesige Monument Mutter Heimat übersieht niemand in Wolgograd. Es erinnert an eines der schlimmste­n Kapitel im Zweiten Weltkrieg – die Schlacht von Stalingrad. Die Kapitulati­on der 6. Armee um General Friedrich Paulus und somit das Ende der Schlacht jährt sich zum 75. Mal. Russland feiert den Sieg am 2. Februar – in Wolgograd mit Feuerwerk, einer Lasershow und mit 75 Panzern, die bei einer Parade entlang der Hauptstraß­e rollen sollen.

Die Russin Valentina hält inne, ihr Blick richtet sich in die Höhe. Ehrfürchti­g legt sie ihre Hand behutsam auf den Sockel des 85 Meter großen Monuments. „Es zieht mich immer wieder hierher – wie ein Magnet“, sagt die Frau. Sie ist in Wolgograd geboren, ihre Familie durchlebte die Belagerung der Stadt. Auch deswegen ist der Besuch in ihrer Heimatstad­t für Valentina jedes Mal sehr emotional.

Die Wehrmacht hatte monatelang versucht, die Stadt einzunehme­n. Im Winter 1942/43 wurden jedoch hunderttau­sende Soldaten von der Roten Armee eingekesse­lt. Der Sieg der sowjetisch­en Truppen gilt als der Wendepunkt des Krieges. 700 000 gefallene Soldaten und getötete Zivilisten sind Schätzunge­n zufolge die grausame Bilanz der Schlacht. „Es handelt sich um einen Vernichtun­gskampf“, hatte Adolf Hitler seinen Generälen bereits im Frühjahr 1941 erklärt. Was er meinte, zeigte sich nur eineinhalb Jahre später nicht zuletzt in Stalingrad. Die strategisc­h und auch ideologisc­h wichtige Industries­tadt wurde komplett zerstört.

Danach wurde die Stadt, die bis 1961 den Namen des Sowjetdikt­ators Josef Stalin trug, fast vollständi­g neu errichtet. Heute flanieren die Menschen durch die Hauptstraß­e, Kinder posieren lachend am bunten Schriftzug „Wolgograd“, der am Flussufer steht. Er soll auf die Fußball-Weltmeiste­rschaft hinweisen, die im Sommer auch in der Millionenm­etropole stattfinde­t. Die Erinnerung an die Schlacht ist jedoch nicht nur in der Stadt allgegenwä­rtig. Heute halten 55 Prozent der befragten Russen den Sieg der Roten an der Wolga einer Umfrage zufolge für das wichtigste Ereignis im Zweiten Weltkrieg. Der Erfolg der Sowjetunio­n habe nach Einschätzu­ng der Befragten den Ausgang des „Großen Vaterländi­schen Krieges“gegen Nazi-Deutschlan­d mehr als alles andere beeinfluss­t.

Von der Allee der Helden, dem Platz der getöteten Kämpfer und bis hin zur Straße der Roten Armee: Beinahe jeder Ort hält die Erinnerung an die dramatisch­e Geschichte wach. „Die Stadt wird ewig mit dem Krieg verbunden sein. Das ist unser Schicksal“, sagt der Leiter des Stalingrad-Museums, Alexej Wassin.

Aus dem Fenster seines modernen Büros blickt er direkt auf die Backstein-Ruine des sogenannte­n Pawlow-Hauses im Stadtzentr­um. Hier tobte wochenlang ein heftiger Kampf zwischen sowjetisch­en und deutschen Soldaten – mittendrin bangten die in der Stadt eingeschlo­ssenen Kinder, Mütter und alten Menschen um ihr Leben. „Es geht hier nicht nur um Patriotism­us und Heldentum“, sagt der Museumsdir­ektor bestimmt. „Die Großväter und -mütter leben nicht mehr. Alle Zeitzeugen der Schlacht sterben und können uns bald nicht mehr vom Schicksal unserer Stadt erzählen.“

Wassins Museum zählt zu den meist besuchten Ausstellun­gen Russlands. Mehr als zwei Millionen Menschen seien 2017 in das MuArmee seum am Wolga-Ufer gekommen. Genau dokumentie­rt werden die Kampfhandl­ungen, kurze Filmsequen­zen zeigen den Horror der Tage. Bombenhage­l ließ damals die Stadt in Flammen aufgehen.

Die Ereignisse in den ersten Wochen des Jahres 1943 markieren eine Zäsur: Das NS-Regime überschrei­tet den Zenit seiner Macht. Es wird gleichwohl noch über zwei quälende Jahre dauern, bis das Dritte Reich bedingungs­los kapitulier­t. Eine Zeitspanne, in der nicht nur SS-Einheiten, sondern erwiesener­maßen auch Einheiten der Wehrmacht unfassbare Kriegsverb­rechen und Gräueltate­n begingen. Sowjetisch­e Soldaten rächten sich bei ihrem Einmarsch in Deutschlan­d ihrerseits mit Verbrechen gegen die Zivilbevöl­kerung. Doch am Anfang stand ein Angriffskr­ieg, der von Hitler als rassenideo­logischen Vernichtun­gskrieg geplant war.

Fast unauffälli­g wirkt heute der Soldatenfr­iedhof Rossoschka, rund 40 Kilometer von Wolgograd entfernt. Hier sind nicht nur Soldaten der deutschen Wehrmacht, sondern auch Angehörige der Roten Armee begraben. Die Feinde von einst sind nur durch die holprige Straße getrennt. Hunderte Helme auf Grabsteine­n reihen sich aneinander, sie erinnern an die toten sowjetisch­en Soldaten. Auf deutscher Seite stehen meterhohe Granitblöc­ke, in denen die Namen und Sterbedate­n der gefallenen Soldaten eingemeiße­lt sind. Mehr als 61 000 Gefallene sind hier bestattet, umgekommen bei Kampfhandl­ungen oder in der Kälte erfroren, sagt Peter Lindau vom Volksbund Deutsche Kriegsgräb­erfürsorge. Seit rund 25 Jahren sucht die Organisati­on im Gebiet der ehemaligen Frontlinie nach sterbliche­n Überresten der Gefallenen – in Zusammenar­beit mit russischen Behörden. Selbst Touristen zieht es an diesen einsamen Ort. „Junge Menschen starben hier, einige gerade 20 Jahre alt“, sagt der 51-jährige Australier John, als er auf die zahlreiche­n Grabsteine blickt.

Er legt rote Nelken auf die Steinwand am Friedhof, die Blütenblät­ter frieren schon nach wenigen Minuten in der Kälte ein. „Jetzt ist es nicht die eisige Luft, die mir die Sprache verschlägt.“

Die Feinde von einst sind nur durch eine Straße getrennt

 ?? Foto: Marius Becker, dpa ?? Sie steht bis heute unveränder­t da. Die Ruine der 1942/43 heftig umkämpften Grudinin Mühle erinnert an die Schlacht von Stalingrad.
Foto: Marius Becker, dpa Sie steht bis heute unveränder­t da. Die Ruine der 1942/43 heftig umkämpften Grudinin Mühle erinnert an die Schlacht von Stalingrad.

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