Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Zur Klassik gesellen sich nun Neue Meister
Musik Sie heißen Nils Frahm, Ludovico Einaudi oder Max Richter und setzen sich mit ihren Klängen bewusst zwischen die Stühle. Das Publikum dankt es ihnen mit ausverkauften Häusern. Werden Bach und Beethoven überflüssig?
Seit Jahren, nein, Jahrzehnten sucht die Klassikwelt – Plattenlabel und Konzertveranstalter vorneweg – nach Wegen, ein jüngeres und breiteres Publikum an sich zu binden. Scheint so, als würde das gelingen, denn ein neues Genre ist da seit ein paar Jahren heraufgedämmert. Sieht man sich an, welchen Erfolg dessen führende Köpfe haben – ein Nils Frahm etwa, ein Ludovico Einaudi und ein Max Richter, um nur diese drei zu nennen –, so ist klar, dass hier nicht von einem Nischenphänomen die Rede sein kann. Im Gegenteil, wenn Frahm im Londoner Barbican auftritt, ist die Halle viermal hintereinander ausverkauft, und der Streamingdienst Spotify verzeichnet nicht weniger als zwei Millionen Abrufer seiner Musik. Spätestens hier wird klar, dass in diesem neuen Genre die Grenzen zwischen klassischer und populärer Musik verschwimmen.
Klassik, Pop – welchen Namen hat das Kind denn nun? Da gibt es bisher keine eindeutigen Festlegungen. Diverse Begriffe sind im Umlauf, worunter „New Classical Music“und „Neue Meister“die gebräuchlichsten sind. Die Musiker selbst wollen sich partout nicht fest- legen, wohl um nicht in Schubladen gesteckt zu werden, die sie in ihrer Kreativfreude behindern würden. Dem Publikumserfolg der neuen Welle schadet das nicht.
Wie klingt sie, die Musik dieser Neuen Meister? Sieht man davon ab, dass jeder eine eigene Handschrift pflegt, lassen sich einige gemeinschaftliche Grundzüge ausmachen. Klangwelten der Klassik und des Pop werden zusammengeführt, Analoges trifft auf Elektronik, Synthesizer und Effektgeräte werden kombiniert mit traditionellem Instrumentarium – wobei dem Klavier als dem schlechthin „romantischen“Instrument eine Sonderrolle zukommt. Nicht ohne Grund, denn die Neue-Meister-Musik bewegt sich mit überwiegend ruhigem Puls; ihre Harmonik ist einfach; alles Schrille wird vermieden. Keine Rock-Ekstasen also und keine Techno-Nervosität, wenn der 35-jährige Frahm hinter seinen Tastaturen Soundflächen übereinander schichtet; aber auch keine Dissonanz-Exzesse wie bei den Stücken der E-Musik-Avantgarde, wenn der Italiener Einaudi, mit 62 Jahren so etwas wie der elder statesman der Szene, seine Lyrismen aus dem Flügel tropfen lässt oder ein Max Richter den guten alten Vivaldi „rekom- indem er ihm ein Klanggewand von heute schneidert.
Die Neue Klassik, sie setzt sich bewusst zwischen die Stühle. Die an Bach und Beethoven orientierte Ausbildung vieler ihrer Protagonisten ist nicht zu überhören, und doch: An der traditionellen Klassik mit ihrem steten Kreisen um die Werke längst gestorbener Komponisten, aber auch an ihren altehrwürdigen Präsentationsformen stört viele Neuerer der „Muff“, wie einer ihrer Vertreter, Volker Bertelmann alias Hauschka, es nennt. Doch auch mit gewissen Begleiterscheinungen des Pop haben die Neumeister ihre Probleme, vor allem mit seiner Kommerzialisierung, dem Zwang zum Zweieinhalb-Minuten-SongMainstream.
Weshalb also nicht, lautet die Konsequenz, einen neuen Weg beschreiten? Indem man Elemente beider Welten zusammenführt, längere Stückstrukturen entwickelt und auf Songtexte verzichtet, dabei aber doch für ein größeres Publikum fasslich bleibt und Musik schafft, die ziemlich direkt aufs Emotionale zielt. Die Neuen Meister bedienen sich dabei nicht nur bei Klassik und Pop, sondern auch aus vielen weiteren Töpfen, sei es Jazz, Weltmusik oder Ambient, um einen eigenen „Teller Buntes“anzurichten, wie Nils Frahm das nennt. Was er nicht sagt: Alles, in gradueller Abwandlung, schon mal dagewesen, bei Bands wie Tangerine Dream, Vangelis, in der Filmmusik sowieso.
Der Erfolg der Neuen Meister aber zeigt, dass mit dem Amalgamieren der Stile offenbar ein Nerv getroffen wird. Denn nicht jeder, der Musik mag, schätzt das Rohe des Rocks, das manchmal Pubertäre des Pops; und nicht jeder Liebhaber von Klavierklängen mag sich auf die Rituale eines Klassikkonzertabends und schon gar nicht auf ein Mitdenken in Tönen einlassen, wie es die herkömmliche Klassik verlangt.
In diese Bedürfnislücke sticht die Neue Klassik vor mit ihrer Eingängigkeit, ihrem Verzicht auf vordergründige Show, ihrer Betonung künstlerischer Integrität. Es gibt aber auch Stimmen, die den Erfolg der Neuen Meister in einen gesellschaftlichen Zusammenhang stellen. Der Dirigent André de Ridder etwa, der die „Echo Klassik“-prämierte Aufnahme von Max Richters „rekomponierten“Vivaldi-„Jahreszeiponiert“, ten“eingespielt hat, sieht im Erfolg der Neuen Klassik, so hat er es dem Musikmagazin Spex erzählt, ein „starkes Bedürfnis nach beruhigender, affirmativer Musik“– als Gegengewicht zu einer unsicher gewordenen globalisierten Welt.
Schwingt in dieser Äußerung schon leises Bedenken mit, so gibt es durchaus auch saftige Kritik an der New-Classical-Bewegung. Wer die subversive Kraft von Rock und Pop schätzt, kann vor den niemals aggressiven Klängen der „Neuen“eigentlich nur die Nase rümpfen und vermag, wie Spex, in ihnen nichts anderes zu erkennen als „die klangliche Entsprechung zur BRD unter Angela Merkel“. Für den eingefleischten Klassikfreund wiederum klingen Frahm, Einaudi & Co. nach Fahrstuhlmusik, ihm gilt die Neue Klassik als nicht satisfaktionsfähig, weil unterkomplex.
Dennoch, die Neuen Meister haben ihr Publikum und die Klassikbranche ist froh um die frische Brise. Die bestehenden Stile und Genres müssen sich nun den Platz teilen mit einem Mitbewerber. Eines aber wird nicht in der Macht der Neuen Klassik stehen: Sie macht keine andere Musik überflüssig. Auch nicht die – für viele schon gestorbene – Klassik.
Ein „Teller Buntes“, sagt Nils Frahm zu seiner Musik