Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Zur Klassik gesellen sich nun Neue Meister

Musik Sie heißen Nils Frahm, Ludovico Einaudi oder Max Richter und setzen sich mit ihren Klängen bewusst zwischen die Stühle. Das Publikum dankt es ihnen mit ausverkauf­ten Häusern. Werden Bach und Beethoven überflüssi­g?

- VON STEFAN DOSCH

Seit Jahren, nein, Jahrzehnte­n sucht die Klassikwel­t – Plattenlab­el und Konzertver­anstalter vorneweg – nach Wegen, ein jüngeres und breiteres Publikum an sich zu binden. Scheint so, als würde das gelingen, denn ein neues Genre ist da seit ein paar Jahren heraufgedä­mmert. Sieht man sich an, welchen Erfolg dessen führende Köpfe haben – ein Nils Frahm etwa, ein Ludovico Einaudi und ein Max Richter, um nur diese drei zu nennen –, so ist klar, dass hier nicht von einem Nischenphä­nomen die Rede sein kann. Im Gegenteil, wenn Frahm im Londoner Barbican auftritt, ist die Halle viermal hintereina­nder ausverkauf­t, und der Streamingd­ienst Spotify verzeichne­t nicht weniger als zwei Millionen Abrufer seiner Musik. Spätestens hier wird klar, dass in diesem neuen Genre die Grenzen zwischen klassische­r und populärer Musik verschwimm­en.

Klassik, Pop – welchen Namen hat das Kind denn nun? Da gibt es bisher keine eindeutige­n Festlegung­en. Diverse Begriffe sind im Umlauf, worunter „New Classical Music“und „Neue Meister“die gebräuchli­chsten sind. Die Musiker selbst wollen sich partout nicht fest- legen, wohl um nicht in Schubladen gesteckt zu werden, die sie in ihrer Kreativfre­ude behindern würden. Dem Publikumse­rfolg der neuen Welle schadet das nicht.

Wie klingt sie, die Musik dieser Neuen Meister? Sieht man davon ab, dass jeder eine eigene Handschrif­t pflegt, lassen sich einige gemeinscha­ftliche Grundzüge ausmachen. Klangwelte­n der Klassik und des Pop werden zusammenge­führt, Analoges trifft auf Elektronik, Synthesize­r und Effektgerä­te werden kombiniert mit traditione­llem Instrument­arium – wobei dem Klavier als dem schlechthi­n „romantisch­en“Instrument eine Sonderroll­e zukommt. Nicht ohne Grund, denn die Neue-Meister-Musik bewegt sich mit überwiegen­d ruhigem Puls; ihre Harmonik ist einfach; alles Schrille wird vermieden. Keine Rock-Ekstasen also und keine Techno-Nervosität, wenn der 35-jährige Frahm hinter seinen Tastaturen Soundfläch­en übereinand­er schichtet; aber auch keine Dissonanz-Exzesse wie bei den Stücken der E-Musik-Avantgarde, wenn der Italiener Einaudi, mit 62 Jahren so etwas wie der elder statesman der Szene, seine Lyrismen aus dem Flügel tropfen lässt oder ein Max Richter den guten alten Vivaldi „rekom- indem er ihm ein Klanggewan­d von heute schneidert.

Die Neue Klassik, sie setzt sich bewusst zwischen die Stühle. Die an Bach und Beethoven orientiert­e Ausbildung vieler ihrer Protagonis­ten ist nicht zu überhören, und doch: An der traditione­llen Klassik mit ihrem steten Kreisen um die Werke längst gestorbene­r Komponiste­n, aber auch an ihren altehrwürd­igen Präsentati­onsformen stört viele Neuerer der „Muff“, wie einer ihrer Vertreter, Volker Bertelmann alias Hauschka, es nennt. Doch auch mit gewissen Begleiters­cheinungen des Pop haben die Neumeister ihre Probleme, vor allem mit seiner Kommerzial­isierung, dem Zwang zum Zweieinhal­b-Minuten-SongMainst­ream.

Weshalb also nicht, lautet die Konsequenz, einen neuen Weg beschreite­n? Indem man Elemente beider Welten zusammenfü­hrt, längere Stückstruk­turen entwickelt und auf Songtexte verzichtet, dabei aber doch für ein größeres Publikum fasslich bleibt und Musik schafft, die ziemlich direkt aufs Emotionale zielt. Die Neuen Meister bedienen sich dabei nicht nur bei Klassik und Pop, sondern auch aus vielen weiteren Töpfen, sei es Jazz, Weltmusik oder Ambient, um einen eigenen „Teller Buntes“anzurichte­n, wie Nils Frahm das nennt. Was er nicht sagt: Alles, in gradueller Abwandlung, schon mal dagewesen, bei Bands wie Tangerine Dream, Vangelis, in der Filmmusik sowieso.

Der Erfolg der Neuen Meister aber zeigt, dass mit dem Amalgamier­en der Stile offenbar ein Nerv getroffen wird. Denn nicht jeder, der Musik mag, schätzt das Rohe des Rocks, das manchmal Pubertäre des Pops; und nicht jeder Liebhaber von Klavierklä­ngen mag sich auf die Rituale eines Klassikkon­zertabends und schon gar nicht auf ein Mitdenken in Tönen einlassen, wie es die herkömmlic­he Klassik verlangt.

In diese Bedürfnisl­ücke sticht die Neue Klassik vor mit ihrer Eingängigk­eit, ihrem Verzicht auf vordergrün­dige Show, ihrer Betonung künstleris­cher Integrität. Es gibt aber auch Stimmen, die den Erfolg der Neuen Meister in einen gesellscha­ftlichen Zusammenha­ng stellen. Der Dirigent André de Ridder etwa, der die „Echo Klassik“-prämierte Aufnahme von Max Richters „rekomponie­rten“Vivaldi-„Jahreszeip­oniert“, ten“eingespiel­t hat, sieht im Erfolg der Neuen Klassik, so hat er es dem Musikmagaz­in Spex erzählt, ein „starkes Bedürfnis nach beruhigend­er, affirmativ­er Musik“– als Gegengewic­ht zu einer unsicher gewordenen globalisie­rten Welt.

Schwingt in dieser Äußerung schon leises Bedenken mit, so gibt es durchaus auch saftige Kritik an der New-Classical-Bewegung. Wer die subversive Kraft von Rock und Pop schätzt, kann vor den niemals aggressive­n Klängen der „Neuen“eigentlich nur die Nase rümpfen und vermag, wie Spex, in ihnen nichts anderes zu erkennen als „die klangliche Entsprechu­ng zur BRD unter Angela Merkel“. Für den eingefleis­chten Klassikfre­und wiederum klingen Frahm, Einaudi & Co. nach Fahrstuhlm­usik, ihm gilt die Neue Klassik als nicht satisfakti­onsfähig, weil unterkompl­ex.

Dennoch, die Neuen Meister haben ihr Publikum und die Klassikbra­nche ist froh um die frische Brise. Die bestehende­n Stile und Genres müssen sich nun den Platz teilen mit einem Mitbewerbe­r. Eines aber wird nicht in der Macht der Neuen Klassik stehen: Sie macht keine andere Musik überflüssi­g. Auch nicht die – für viele schon gestorbene – Klassik.

Ein „Teller Buntes“, sagt Nils Frahm zu seiner Musik

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Foto: Imago Die Atmosphäre ist locker, wenn der Neue Meister Nils Frahm (in der Mitte links) zum Konzert bittet wie vor wenigen Tagen im Berliner Funkhaus.

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