Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Abgrenzung statt Interkultur
Debatte Mit einem Gastspiel und einer Lesung sprachen in letzter Zeit zwei Veranstaltungen Augsburgs türkischsprachiges Publikum an. Das spiegelt Öffnung. Aber ist es auch Vielfalt?
Es sollte eine Premiere sein: Der Verein Atasanat, 2017 gegründet von Deutschtürken der zweiten und dritten Generation, verkündete die Eröffnung einer neuen, türkischen Bibliothek in den Räumen der Stadtbücherei Augsburg. In den sozialen Medien betonten die Verantwortlichen auf Türkisch vorab, die Einrichtung sei neu. Tatsache ist jedoch: Eine türkische Sektion mit zuletzt 430 Büchern gibt es schon seit über 25 Jahren. Neu ist lediglich die Spende, mit der Atasanat diesen 90 weitere türkische Titel hinzufügte, darunter auch Übersetzungen von Goethe, John Steinbeck und Franz Kafka.
Auch ein türkischer Lesetag, mit dem Atasanat am letzten Wochenende seine Spende feierte, ist nicht ganz neu. Fikret Yakaboylu hatte in den letzten Jahren bereits mehrere Kinderlesetage initiiert. Doch Atasanat zog mehr als 100 Interessierte in die Stadtbücherei, auch eine Handvoll Menschen mit deutschem Hintergrund fand sich ein. Lebensgroße Konterfeis von Republikgründer Mustafa Kemal und die türkische Fahne rahmten die Bühne. Mit dessen Ehrentitel „Atatürk“(Vater der Türken) spielt auch Atasanat, „Kunst der Ahnen“. Aber passt ein so intensiver Rückgriff auf nationaltürkische Konzepte mit der interkulturellen Öffnung zusammen, die die Stadtbücherei und andere kulturelle Institutionen der Stadt anstreben? Ist es schon Interkultur, wenn Theater und Bücherei Migrantenvereinen Räume und Bühnen zur Verfügung stellen?
Als Ziel geben die Verantwortlichen an, für mehr Bildung unter türkischen Einwanderern sorgen zu wollen. „Wir wollen der deutschen Öffentlichkeit zeigen, dass die türkische Community aus mehr als nur Moscheevereinen besteht“, erklärt Atasanat-Mitgründerin Didem Karabulut. Der auf Deutsch und Türkisch vorgestellte Roman „Vögel mit gebrochenen Flügeln“(Aise Kulin, 2016) jedenfalls ist eine deutsch-jüdisch-türkische Familiensaga, in der die Schlimanns 1933 aus Deutschland in die Schweiz fliehen müssen. Der Vater, ein Arzt, erhält ein Stellenangebot der Universität Istanbul ,und die Familie zieht an den Bosporus. Doch die anschließende Diskussion fällt wieder ins Türkische. Auch geografisch. Denn die Jura-Doktorandin und Vereinsvorsitzende Simge Kurt strukturiert sie mit drei Leitfragen zu den Mängeln nicht etwa des deutschen, sondern des türkischen (!) Bildungssystems. Diese seien letztlich mit einer Rückbesinnung auf die Ideen Atatürks zu beheben. Bei Atasanat scheint der Weg zur Interkultur noch weit.
Neben Moscheegemeinden, Aleviten, Assyrern, Kurden und Grauen Wölfen gibt es jetzt also auch eine kemalistische Organisation in der türkeistämmigen Vereinslandschaft. Man könnte sagen, Vielfalt. Oder auch: Die Konfliktparteien des Herkunftslandes sind komplett. Ginge Atasanat auf Moscheevereine oder Assyrer zu, könnte ein interkultureller Dialog stattfinden. Doch ein Zuhörer hat da keine Hoffnung: „Mit keinem Wort erwähnen die Veranstalter selbstkritisch die kemalistische Verantwortung der letzten hundert Jahre. Mir stellen sich die Nackenhaare auf, wenn ich ihnen zuhöre.“Der Mann ist Assyrer und seit den 1970er Jahren im Mesopotamienverein aktiv.
Genau fünf Jahre ist es her, dass ehemalige Projektleiter des städtiihre schen Friedensfests Timo Koester dem Augsburger Stadtrat den „Leitfaden zur Interkultur“vorlegte. Manch einer fragte sich angesichts dessen, was aus der Kultur in Augsburgwerden soll. Eine zentrale Frage Koesters war: „Wie können Teile der Gesellschaft, die über eine kleine Elite hinaus gehen, für die Teilhabe am öffentlich subventionierten Kulturleben gewonnen werden?“
Seither hat sich einiges getan: Der damalige Generalmusikdirektor Dirk Kaftan und das philharmonische Orchester erarbeiteten die „Musikalische Begegnung zwischen Orient und Okzident“mit dem Ensemble Sarband. Das Friedensfest 2013 startete mit einem weltweit wohl einmaligen Solokonzert für Baglama (Langhalslaute) und Orchester. Für die Verfechter der interkulturellen Öffnung war diese Produktion im Herzen des Theaters ein Meilenstein.
Die mit harten Bandagen geführte Auseinandersetzung um die Theatersanierung bescherte eine Öffnung für die freie, auch interkulturelle Szene. Interkulturelles war seither etwa in „Sounds of God“mit Bands aus nahöstlicher und „Spiritual Jazz“-Tradition zu hören. Am vergangenen Wochenende kam dann der Baglama-Meister Kemal Dinç mit seinem musikalischen Erzählstück „Anadolu’nun Yüzleri“(Gesichter Anatoliens). Dieses Gastspiel hielt interkulturell jedoch nicht, was es versprach, ging es doch nicht über die türkisch-osmanische Kultur und Geschichte hinaus, blieb aus hiesiger Sicht beinah monokulturell.
Wir sind – das zeigen jedenfalls die beiden Veranstaltungen der letzten Woche – immer noch dabei, uns kennenzulernen. Trotz der letzten 50 Jahre türkischer Migration: Die angestammte Bevölkerung kennt sich im Detail immer noch nicht aus. Aufgabe der Interkultur ist es, für mehr Geschmeidigkeit zu sorgen. Welche Formate funktionieren, das müssen Recherche und Kommunikation ergeben. In einem erweiterten Kulturbegriff gälte schon das als Teil des künstlerischen Prozesses. Gelingen kann das allerdings nur, wenn auch die andere Seite sich öffnet, nach innen wie nach außen. Die türkeistämmige Gemeinde in Augsburg ist mit 25000 Mitgliedern groß genug, in sich kulturell und politisch vielfältig zu sein. Doch in den Vereinen regieren meist Abgrenzung und Kulturchauvinismus gegenüber den „anderen“türkischen Lagern. Hier muss ein interkultureller Dialog her, möglichst auch Versöhnung. Wenn nicht hier, wo dann?