Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Jahrzehnte der Scham
Missbrauch Ein Forscher erklärt, warum es wichtig ist, dass sich Opfer an die Öffentlichkeit wenden – und wenn es Jahrzehnte nach der Tat ist
In Donauwörth wird derzeit über Misshandlungen in einem Kinderheim vor 40 Jahren diskutiert. Im nicht weit entfernten Nördlingen kamen vor wenigen Monaten Missbrauchsvorwürfe gegen den ehemaligen Stadtpfarrer auf. Er hat daraufhin zugegeben, in den 80er Jahren im Mindelheimer Maristenkolleg einen Jungen sexuell missbraucht zu haben. Warum kommen derartige Fälle oft erst Jahrzehnte später an das Licht der Öffentlichkeit? Prof. Harald Dreßing: Forschungen in der Viktimologie zeigen, dass es gerade bei Betroffenen sexuellen Missbrauchs oft extrem lange Latenzen gibt, bis sie sich jemandem offenbaren. Da liegen nicht selten Jahrzehnte zwischen der Tat und dem Moment, in dem ein Betroffener darüber spricht.
Woran liegt das?
Dreßing: Das ist je nach Fall sehr unterschiedlich gelagert. Viele Betroffene schämen sich für das, was ihnen angetan wurde. Andere haben Angst, dass ihnen niemand glaubt. Wiederum andere tragen ein Schuldgefühl mit sich herum. Sie fragen sich, was sie falsch gemacht haben – auch wenn solche persönlichen Schuldzuschreibungen natürlich unzutreffend sind.
Nun wenden sich manche Opfer an Vertrauenspersonen, Familienmitglieder, Therapeuten. Andere suchen den Weg an die Öffentlichkeit. Was erhoffen sich Missbrauchsopfer von einer medialen Aufmerksamkeit?
Dreßing: Ich glaube, die wenigsten erhoffen sich persönlich irgendetwas davon, das sind keine Wichtigtuer. Sie machen das eher aus Solidarität, um anderen Opfern zu zeigen: Du bist nicht allein, gemeinsam kann man uns nicht überhören. Auch deswegen kommen Missbrauchsfälle oftmals schubweise an die Öffentlichkeit – viele Opfer fühlen sich von anderen ermutigt. Und vielleicht tragen sie auch dazu bei, dass solche Dinge nicht mehr passieren. Daher ist es wichtig, auch Jahrzehnte nach den Taten darüber öffentlich zu berichten. Es gibt immer noch eine sehr große Dunkelziffer. Sie leiten das Forschungsprojekt zur Aufklärung sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen durch Mitglieder der katholischen Kirche in Deutschland. Dieses wurde vor geraumer Zeit bis September 2018 verlängert. Welche Erkenntnisse sind von Ihrer Arbeit zu erwarten?
Dreßing: Wir werden im Herbst unter anderem Schätzzahlen zur Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen durch katholische Priester im Zeitraum von 1946 bis 2014 berichten, basierend auf der Auswertung einer großen Zahl von Personal- und Strafrechtsakten. Wir werden über Art und Folgen der Missbrauchstaten informieren und darüber, ob und gegebenenfalls welche Spezifika des Missbrauchs es im Kontext der katholischen Kirche gibt. Interview: Michael Böhm
Prof. Harald Dreßing lei tet den Bereich Forensi sche Psychiatrie am Zen tralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.