Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Jetzt wird es ernst für Andrea Nahles
Porträt Einst ärgerte Andrea Nahles als schrille Juso-Vorsitzende die SPD-Spitze. Jetzt übernimmt sie selbst die Führung. Über die Wandlung einer Politikerin, die im passenden Moment den richtigen Ton findet. Der kann ziemlich derb sein
Berlin „Bätschi“; „ab morgen kriegen sie in die Fresse“; „bis es quietscht“– die Sprüche von Andrea Nahles, der designierten SPDVorsitzenden, sind legendär. Oft wirken sie derb, meist sind sie treffend und manchmal entfalten sie durchschlagende Wirkung.
So war es im Januar, als die Sozialdemokratie nach dem desaströsen Wahlergebnis vom September mit der Entscheidung rang, ob sie noch einmal eine Große Koalition eingehen sollte. Auf dem Sonderparteitag in Bonn fand der als Parteichef damals bereits wackelnde Martin Schulz in einer langatmigen Rede weder die richtigen Argumente noch den Weg ins Herz der Genossen. Ein Nein der Delegierten zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen schien wahrscheinlich.
Doch dann legte Fraktionschefin Andrea Nahles einen dieser Auftritte hin: kurz, direkt, emotional, leidenschaftlich – mit Worten, die hängen bleiben. „Die zeigen uns den Vogel“, schrie sie in den Saal. Gemeint waren die Bürger, die, so
Einst kritisierte sie Schröders Agenda Politik massiv
warnte Nahles, die SPD im Falle von Neuwahlen massiv abstrafen würden. Selbst GroKo-skeptische Delegierte applaudierten begeistert. Sie hatte die Rede gehalten, die eigentlich vom Parteivorsitzenden erwartet worden war, für Schulz die Kohlen aus dem Feuer geholt.
Am kommenden Sonntag, beim außerordentlichen Bundesparteitag der SPD in Wiesbaden, steht Nahles nun selbst zur Wahl – dass sie Parteivorsitzende wird, gilt als sicher. Klar ist aber auch: Die sagenhaften 100 Prozent, die Martin Schulz Anfang 2017 erhalten hatte, wird sie nicht bekommen. Und darauf legt die 47-Jährige aus Rheinland-Pfalz auch gar keinen Wert. Wie es Schulz anschließend ergangen ist, ist schließlich bekannt.
Und Andrea Nahles kann dem Votum paradoxerweise auch deshalb gelassen entgegensehen, weil eine Gegenkandidatin hat. Die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange ist eine zumindest regional durchaus profilierte Politikerin – echte Siegchancen werden ihr nicht eingeräumt. Eine reine Spaßbewerberin ist sie aber nicht.
In Wiesbaden steht die bemerkenswerte Wandlung der Andrea Nahles vor der Vollendung: Die schrill-rebellische Juso-Vorsitzende von einst hat sich in unzähligen kleinen Schritten zur staatstragendseriösen Politikerin gewandelt. Ideologisch hat sie eine weite Strecke zurückgelegt, ihren Karriereweg ist sie zielstrebig gegangen.
Nahles, Tochter eines Maurers aus Weiler bei Mayen in der Eifel, gründete, gerade volljährig, in ihrem Heimatdorf einen SPDOrtsverein, zuvor hatte sich die aktive Katholikin als Messdienerin und in einer ökumenischen Jugend- gruppe engagiert. Frühe Prägungen, die ihren Wertekodex bestimmten, wie sie einmal sagte. 1995 wurde sie mit Unterstützung des linken Juso-Flügels zur Bundesvorsitzenden des SPD-Nachwuchses gewählt. Schnoddrig, frech und ausgesprochen linksorientiert machte sie schnell von sich reden.
Aus dem Juso-Alter herausgewachsen, kritisierte sie massiv Schröders „Agenda 2010“mit den Hartz-IV-Gesetzen. Parallel pflegte sie ihr seit diesen Tagen weitverzweigtes Netzwerk, wurde in der Partei immer wichtiger und 2009 Generalsekretärin unter Sigmar Gabriel. Der soll sie, wie es heißt, nach allen Regeln der Kunst schikaniert haben. Eine Feindschaft fürs Leben, die Gabriel in diesem Jahr schließlich die Chance gekostet haben dürfte, Außenminister zu bleiben.
Anders als das letzte Wort im Tisie tel „Frau, gläubig, links“vermuten lässt, legte Nahles mit einer Buchveröffentlichung 2009 den Grundstein für ihren Imagewandel von der kratzbürstigen Parteilinken zur bodenständig-pragmatischen Sozialdemokratin, die auch wertkonservative Positionen vertritt, wenn es etwa um den Schutz des ungeborenen Lebens geht.
Im dritten Kabinett von Angela Merkel ab 2013 wurde Andrea Nahles zur Arbeits- und Sozialministerin berufen, führte die „Rente mit 63“nach 45 Beitragsjahren sowie den gesetzlichen Mindestlohn ein. Nach der Bundestagswahl 2017, als die Sozialdemokratie mit dem schlechtesten Nachkriegsergebnis in Trümmern lag und scheinbar vor dem Gang in die Opposition stand, übernahm sie den Fraktionsvorsitz.
Als das Projekt der Jamaika-Koalition scheiterte, sprach sich Nahles sehr schnell für eine neue GroKo aus. In den Sondierungsgesprächen und den anschließenden Koalitionsverhandlungen liefen bei ihr und nicht beim wackelnden Parteichef Martin Schulz die Fäden zusammen.
Nahles verzichtete darauf, selbst als Ministerin in die Regierung zu gehen. Doch mit dem Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz verbindet sie ein von Respekt geprägtes Verhältnis. Die Arbeitsteilung ist klar: Scholz soll zeigen, dass die SPD vernünftig regieren kann, Nahles leitet den Erneuerungsprozess der angeschlagenen Partei.
Wer von beiden in ein paar Jahren die bessere Ausgangsposition für eine Kanzlerkandidatur hat, wird sich zeigen. Am Sonntag greift Andrea Nahles erst einmal nach dem Parteivorsitz. Es ist anzunehmen, dass ihr auch dazu wieder ein passender Spruch einfällt.