Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Keine Ferien ohne Brenner
Italien Gleich hinter dem Pass beginnt das Urlaubsgefühl. Oft genügt dafür schon der erste Espresso an der Raststätte. Der Brenner ist das Tor zu Sonne, Strand, Spaghettiglück. Seit 100 Jahren verläuft dort eine Grenze, die nicht nur Tirol, sondern gefühl
Wer den schnellen Süden will, muss über den Brenner. Er ist die Direttissima. Verheißung und hässliche Schneise zugleich zu Sonne, Strand, Spaghetti-Seligkeit.
Oben noch graue Zöllnerhäuser, blinde Fensterscheiben, rostige Leitplanken. Unten Bozen, Gardasee, Florenz, unverschämt blühende Oleanderbüsche am Straßenrand, das Meer, Sandburgen, Aperol Sprizz. Der Brenner das Tor zum Dolce far niente, der Süden so nah, dass man es nur noch bergab rollen lassen muss. Man darf bloß die Abfahrt nicht verpassen, zur Strada del Sole.
Kilometer 93,2. Abfahrt Eisack Ost. Die Eni-Tankstelle. Das ist traditionell der erste Halt hinter der Grenze. Rechts raus zum ersten Espresso auf italienischem Boden. Dazu ein Stück Pizza und einen Schinken-Käse-Toast. Zahlen an der Kasse, Herumstehen an der Bar, so wie es die nächsten Tage auch noch sein wird. Italiengefühl an der Tankstelle, warum können die das nur?
Ferien ohne Brenner, das geht (fast) gar nicht. Generationen erinnern sich an die wachsende Anspannung, wenn es nach dem sterbenslangweiligen Inntal endlich immer mehr bergan ging. Dann die Europabrücke, die krasse Fast180-Grad-Kehre, dann der Wipptalerhof zur Rechten. Genügend Zeit sich alles einzubrennen hatte man ja als Kind auf dem Rücksitz, denn man stand ja meist im Stau. Die Micky-Maus-Hefte waren irgendwann gelesen, die Burgen, allesamt könnten sie Vorbilder für Ritterbilderbücher sein, auf der rechten und linken Seite der Autobahn gezählt. 14 Stunden bis an die Adria waren schließlich keine Seltenheit.
Genügend Zeit also, sich in allen Farben die Grenzkontrollen auszumalen, einer der großen Höhepunkte der Urlaubsfahrt. Dass es nicht mehr weit sein konnte, kündigte sich durch emsiges Rascheln an. Der Griff der Mutter in die Handtasche, die die Pässe im vorauseilenden Gehorsam schon aufgeschlagen und ineinandergeschichtet hatte. Auch das so ein typischer Erinnerungsfetzen: Der Vater kurbelt das Fenster runter, der Zöllner in Uniform streckt den Kopf ins Auto, inspiziert Insassen und Inhalt, kontrolliert schweigend die Pässe und winkt dann entweder schweigend durch oder baut noch eine Schikane ein: „Den Kofferraum öffnen, bitte!“Keine Frage, was Kinder aufregender fanden...
Und nicht zuletzt wechselte man nun zum zweiten Mal innerhalb von Stunden die Währung im Geldbeutel aus: D-Mark, Schilling und ab dem Brenner Lire. Grenzerfahrungen, wie sie heute gar nicht mehr gibt.
Das Spannendste heute an der Brennerüberfahrt ist dagegen, ob die Kamera der Videomaut das Autokennzeichen erkennt, sich die Schranke öffnet oder man rechts hinausfahren muss … Oder ob man direkt vor dem riesigen Outlet an der Straße einen Parkplatz bekommt oder ins ebenso riesige Parkhaus fahren muss. Ob das der Stoff ist, aus dem prägende Urlaubserinnerungen gemacht sind?
Das alles zeigt aber zumindest, dass sich in den vergangenen 23 Jahren Entscheidendes verändert hat oben am Pass. Die Grenzhäuschen sind seit dem Schengenabkommen im Jahr 1995, das den Europäern freie Fahrt schenkte, weitgehend funktionslos, die Schlagbäume offen. Einziger noch notwendiger Aufenthalt für Autofahrer sind die Mautstellen. Was wurde eigentlich aus den Zöllnern?
Der Brenner war immer ein Pass. Er ist Wasserscheide zwischen der Sill und der Eisack und damit zwischen dem Schwarzen Meer und der Adria. Eine Grenze war er allerdings nicht immer und für viele Tiroler ist er es auch heute immer noch nicht. 100 Jahre ist es dieses Jahr her, dass Tirol getrennt und Südtirol Italien zugeschlagen wurde. Der historische Hintergrund: 1918 im Ersten Weltkrieg wurde die Grafschaft Tirol von den Italienern besetzt und der südliche Landesteil annektiert. In einem Waffenstillstandsabkommen, das am 3. November 1918 in der Villa Giusti in Padua zwischen General Pietro Badoglio für das Königreich Italien und General Viktor Weber, Edler von Webenau, für die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie unterzeichnet wurde, wird erstmals die Grenze genannt, die übrigens ziemlich genau entlang der natürlichen Wasserscheide verläuft.
Eine Grenze, die von Adolf Hitler und Benito Mussolini im Jahr 1939 dann noch einmal endgültig besiegelt wurde. Dr. Manfred Breitenlechner bezeichnet in dem Buch „Brenner.o“, das in diesem Jahr anlässlich des 100. Jahrestages der Grenze erschienen ist, den Brenner als „eine von den Italienern erschlichene Grenze als Siegespfand im Ersten Weltkrieg“. Die Unabhängigkeitskämpferin Herlinde Mollig erinnert sich in dem Buch, für das der Tiroler Fotograf Othmar Kopp zwei Jahre lang recherchiert hat, an die 50er und 60er Jahre, als die deutschsprachigen Tiroler im südlichen Landesteil Repressalien durch die Italiener ausgesetzt waren. Die Südtiroler Erhebung wehrte sich erst mit Schriften und Reden und schließlich mit Gewaltaktionen. Mollig erzählt, wie sie mit dem „freundlichen Gehabe einer erwartungsfrohen Italienurlauberin“Flugzettel, Sprengmittel und Waffen notdürftig versteckt unter einer Luftmatratze in einem kleinen VW Karman Ghia über den Brenner schmuggelte. „Es hat immer geklappt“.
Andere transportierten vor allem Bikinis. Die 50er Jahre. Vollbeschäftigung in Deutschland.
Die einen transportierten Waffen, die anderen Bikinis