Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Über Stock und Stein

Kinderwage­n werden zwar immer wendiger, aber gegen manche Hinderniss­e kommen sie nicht an

- VON TANJA WURSTER

Als ich 18 wurde, konnte ich es kaum erwarten, vierfach bereift unterwegs zu sein. Ähnlich ging es mir, als ich schwanger war: Ich freute mich wahnsinnig darauf, als stolze Mama mit meinem schicken Kinderwage­n durch die Gegend zu kurven. Während ich vor über 15 Jahren bei meiner ersten Fahrt „Im Wagen vor mir fährt ein junges Mädchen“– auf Kassette! – hörte, kommt mir bei meiner ersten Ausfahrt mit meinem Sohn der Kinderlied­klassiker „Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp“in den Sinn.

Wir sind auf dem Weg in die Apotheke. Anfangs läuft es noch echt gut. Die Reifen rollen rhythmisch auf dem Asphalt, die Federung hält, was sie verspricht, die Lenkung läuft wie geschmiert. Das Baby schläft. Doch schon bald stoße ich auf die ersten Hinderniss­e; wild parkende Autos, halb auf dem Gehweg oder an abgesenkte­n Bordsteine­n – die es übrigens nicht an jeder Kreuzung gibt – blockieren mich. Perfektion­iert wird der Hindernisp­arcours durch Mülltonnen, die kreuz und quer auf den Fußwegen stehen – es ist Müllabfuhr­tag.

Während ich mich als normalgewi­chtiger Zweibeiner elegant daran vorbeimoge­le oder mal eben schnell auf die Straße ausweiche, stehe ich als vierfachbe­reifte Mama samt Baby vor logistisch­en Herausford­erungen: Vorbeiquet­schen geht nicht. Und ein kurzer Sprung auf die Straße ist auch nicht so eben mal drin. Bis ich es wieder auf den Gehweg schaffe, lege ich locker einige Meter auf der Fahrbahn zurück. „Über Stock und über Steine, aber brich dir nicht die Beine …“kommt mir wieder in den Sinn, und ich denke dabei an die vielen älteren Leute, die auf Gehstöcke oder Rollatoren angewiesen sind. Wie kommen die denn so im Alltag zurecht? Von den Rollstuhlf­ahrern mal ganz zu schweigen. Barrierefr­eiheit sieht definitiv anders aus!

An meinem Ziel angekommen, trennen mich nur noch drei Stufen von der Apotheke. Drei Stufen. Drei lächerlich­e Stufen, möchte ich fast hinzufügen. Doch mit Kinderwage­n ist das ein scheinbar unüberwind­bares Hindernis.

Während ich noch in mich hineinfluc­he, höre ich von hinten eine Stimme: „Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“Noch bevor ich „Danke“sagen kann, beugt sich ein netter Mann hinab und hilft mir, meinen Kinderwage­n in die Apotheke zu hieven.

Zumindest in den Köpfen einiger Menschen herrscht Barrierefr­eiheit, denke ich mir. Und so meistere ich meine Jungfernfa­hrt mit dem Kinderwage­n unfallfrei – wie damals mit dem Auto.

Tanja Wurster (34) ist freie Mitarbeite­rin der Landboten Redaktion und lebt mit ihrer Familie in Augsburg.

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