Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die Lira fällt, die Türken leiden
Teuerungsrate Wie sich die steigende Inflation und die wachsenden Wirtschaftsprobleme des Landes auf den Alltag der Einwohner auswirken
Istanbul Ein Netzkabel für einen Computer? Der Elektrohändler hebt bedauernd die Hände. „Die habe ich nicht mehr nachbestellt, denn die kommen aus dem Ausland“, sagt er. „Ich habe sie bisher für 20 Lira verkauft, doch dafür bekomme ich sie jetzt selbst nicht mehr.“Und nun? Der Händler zögert kurz, dann zieht er das Netzkabel aus seiner Registrierkasse und reicht es über den Tresen. Die Kasse, so impliziert er mit seiner Geste, werde er wohl nicht mehr lange brauchen. Mit stummem Entsetzen sehen die Türken in diesen Tagen zu, wie ihr Geld, ihr Einkommen und ihr Erspartes vor ihren Augen wegschmilzt.
Die Szene, die sich vor wenigen Tagen in einem kleinen Elektroladen in Istanbul zutrug, erinnert an den Beginn der letzten großen Umwälzung in der Türkei. Ein Blumenhändler warf im April 2001 dem damaligen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit seine Registrierkasse vor die Füße, weil er ihn für den Kollaps der Wirtschaft und seinen Ruin verantwortlich machte. Die Geste war das Startsignal für Massenproteste, die eineinhalb Jahre später zur Revolution an der Wahlurne führten, mit der die AKP von Recep Tayyip Erdogan die alte Garde der Türkischen Republik ablöste.
Diesmal trifft es die Türken mindestens ebenso schlimm. Die Lira hat seit Jahresbeginn fast ein Drittel ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren. Dahinter steckt auch ein Streit mit den USA. Die Türkei hat den US-Pastor Andrew Brunson inhaftiert. Beide Länder hatten zuletzt Sanktionen verhängt, die türkische Lira verlor infolgedessen noch einmal deutlich an Wert.
In den Familien und unter Freunden sind die Sorgen um Geld und Auskommen das wichtigste Thema. Wie könnte es auch anders sein: Der Lira-Absturz und eine Inflationsrate von fast 16 Prozent machen den Alltag plötzlich sehr viel teurer. Der staatliche Mindestlohn von 1600 Lira netto im Monat, mit dem viele Türken auskommen müssen, war schon Anfang des Jahres mit einem Gegenwert von 352 Euro nicht gerade üppig. Heute sind es nur noch 260 Euro.
In den vergangenen Wochen erlebten die Türken eine wahre Welle von Preisanhebungen: Brot, Strom, Gas – alles wurde teurer. „Bitte heiratet nicht mehr oder ladet mich zumindest nicht zur Hochzeit ein“, appellierte ein junger Mann per Twitter an seinen Freundeskreis. Denn der Preis für das traditionelle Hochzeitsgeschenk – eine zwei Gramm schwere Goldmünze – ist für viele unerschwinglich geworden: Der Preis für die Münze kletterte innerhalb von drei Monaten um mehr als 30 Prozent. Um der Braut das Gold ans Kleid heften zu können, muss ein Normalbürger inzwischen fast ein Viertel seines Monatslohnes hinblättern.
All das ist möglicherweise erst der Anfang, meint der regierungskritische Wirtschaftsexperte Mustafa Sönmez. Der Kursverfall der Lira habe allein die Unternehmensverschuldung seit Februar um mehr als 340 Milliarden Lira anschwellen lassen, schrieb er auf Twitter. Sönmez und andere Experten halten inzwischen ein Hilfspaket des Internationalen Währungsfonds für möglich. Auch in der Krise von 2001 griff er ein und verpasste dem Land ein Konjunkturprogramm – das für viele Normalbürger ebenso schmerzhaft war wie die Krise selbst.