Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Was bedeutet Mesale Tolus Freilassun­g?

Interview Der Türkei-Experte Günter Seufert erklärt, welche Auswirkung die Ausreiseer­laubnis der Ulmer Journalist­in für das deutsch-türkische Verhältnis hat. Er erläutert, welche Folgen eine Eskalation der Krise am Bosporus hätte

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Herr Seufert, die deutsche Journalist­in Mesale Tolu, gegen die in der Türkei ein Prozess wegen Terrorprop­aganda läuft, darf das Land verlassen. Wie werten Sie die Wende in dem Fall? Günter Seufert: Die Türkei versucht, in Europa wieder gut Wetter zu machen. Es hat ja in den vergangene­n Tagen bereits mehrere Freilassun­gen gegeben. So wurde der Ehrenvorsi­tzende von Amnesty Internatio­nal in der Türkei, Taner Kilic, aus der Untersuchu­ngshaft entlassen. Ebenso durften zwei griechisch­e Soldaten, die versehentl­ich die Grenze überschrit­ten hatten, das Land verlassen.

Welche Ziele verfolgt die türkische Regierung mit diesem Kurs?

Seufert: Es geht Präsident Erdogan darum, mit Europa wieder eine gemeinsame Grundlage zu finden. Das geschieht natürlich nicht aus Einsicht, sondern aus dem Zwang der aktuellen Wirtschaft­skrise heraus. Denn im Konflikt zwischen der Türkei und den USA sind derzeit weder der türkische Präsident Erdogan noch US-Präsident Trump bereit, nachzugebe­n. Dabei stand der Streit um den in der Türkei festgehalt­enen US-Pastor schon kurz vor einer Lösung. Pastor Brunson sollte gegen einen wegen Wirtschaft­skri- minalität in den USA inhaftiert­en Manager einer staatliche­n türkischen Bank ausgetausc­ht werden. Doch dann hat die Türkei mit ihren Forderunge­n überzogen, als sie auch noch forderte, die Bank von Strafzahlu­ngen zu befreien. Erdogan und Trump haben sich nun so weit aus dem Fenster gelehnt, dass sie nicht mehr zurückkönn­en.

Was bedeutet die von den USA verschärft­e türkische Krise für Europa? Seufert: Die Türkei sucht nun verstärkt die Nähe zu Katar, China und Russland, es geht Ankara darum, Handelsges­chäfte nicht über den US-Dollar, sondern in einheimisc­hen Währungen abzuwickel­n. Der wichtigste Partner für die Türkei aber bleibt Europa. Viele Kredite der türkischen Wirtschaft und rund die Hälfte der türkischen Staatsanle­ihen werden aus Europa finanziert. Ein Crash der Türkei wäre also nicht im europäisch­en Interesse.

Befürworte­n Sie auch direkte deutsche Finanzhilf­en an die Türkei?

Seufert: Nein, darum geht es jetzt nicht. Aber Signale aus Deutschlan­d, die die Türkei ermuntern, Schritte in die richtige Richtung zu tun, sind sehr zu begrüßen. Und die Bundesregi­erung sollte jetzt an Unternehme­n die Botschaft senden, weiter mit der Türkei Geschäfte zu machen und die Wirtschaft­sbeziehung­en sogar noch auszubauen.

Noch im vergangene­n Jahr hat der damalige Bundesauße­nminister Sigmar Gabriel einen härteren Kurs gegen Ankara ausgegeben und sogar die Reisehinwe­ise für Touristen verschärft … Seufert: Die schärferen Töne der Bundesregi­erung haben sich auch ausgezahlt und letztlich zur Freilassun­g von Peter Steudtner und Deniz Yücel geführt. Aber seit dem Augenblick, in dem die Türkei faktisch keine Perspektiv­e mehr zum Beitritt in die Europäisch­e Union hatte, gibt es für Deutschlan­d oder Europa keinen Hebel mehr, die Türkei zu demokratis­chen Reformen zu zwingen. Es ist zwar erfreulich, dass Mesale Tolu jetzt ausreisen darf. Aber in der Türkei werden immer noch ausländisc­he Staatsbürg­er ohne richtige Beweise in Fantasiepr­ozessen angeklagt. Die Entdemokra­tisierung und der Abbau von Freiheitsr­echten gehen ja weiter.

Müsste Deutschlan­d nicht stärker auf einen politische­n Kurswechse­l drängen?

Seufert: Das würde nichts bringen und Bundeskanz­lerin Merkel weiß das auch. Sie nennt als Bedingung für Hilfen ja nur die Unabhängig­keit der Zentralban­k, von Menschenre­chten ist keine Rede. Aber das ist nur ein Ausdruck von Realismus. Es ist zwar traurig, aber Deutschlan­d unterhält viele Wirtschaft­sbeziehung­en mit autoritäre­n Staaten, denken Sie an Saudi-Arabien, Russland oder China.

Wird die Türkei für Deutschlan­d also vom Freund zum ganz normalen Partner?

Seufert: Für die Türkei gelten insofern andere Maßstäbe, als dass sie zumindest auf dem Papier noch ein EU-Beitrittsk­andidat ist. Und durch die türkische Migration nach Deutschlan­d ergibt sich natürlich eine ganz besondere Betroffenh­eit. In der jetzigen Situation geht es vor allem darum, zu vermeiden, dass die Türkei vollkommen abdriftet, sich weiter dem Nahen Osten oder Russdeutsc­he land zuwendet. Würde die Türkei aus der Nato austreten, wäre gerade die europäisch­e Sicherheit in Gefahr. Wenn die Wirtschaft­skrise weiter anhält, ist zudem eine weitere Radikalisi­erung der türkischen Politik zu befürchten, die Stimmung in der Bevölkerun­g könnte sich noch stärker gegen den Westen richten.

Die Türkei ist ja nach den USA die zweitgrößt­e Militärmac­ht in der Nato. Sehen Sie denn irgendwelc­he Anzeichen, dass sich die Türkei und die USA wieder annähern?

Seufert: Auf Entspannun­g deutet im Moment wenig hin. Aber ausschließ­en können wir das auch nicht. Bei US-Präsident Trump geht es ja oft schnell mit überrasche­nden Wendungen und Kurswechse­ln. Wir sollten die Hoffnung also nicht aufgeben.

Interview: Bernhard Junginger

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Zur Person Günter Seufert, Jahrgang 1955, ist Sozialwiss­enschaftle­r mit dem Forschungs schwerpunk­t Türkei bei der Stiftung Wis senschaft und Poli tik in Berlin, die unter anderem den Bun destag und die Bun desregieru­ng berät.

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Foto: Lefteris Pitarakis, dpa Archiv Die aus Ulm stammende Journalist­in Mesale Tolu feierte bereits im Dezember ihre Entlassung aus der Untersuchu­ngshaft, jetzt darf sie auch als freie Frau aus der Türkei ausreisen.
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