Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Schmeckt’s?

Ernährung Die Bayern lieben Tomaten – gerade im Sommer. Die Supermarkt-Ware kommt größtentei­ls aus dem Ausland. Im Freistaat lernen Prüfer nun, wie sie Geruch und Geschmack der Frucht bestimmen können. Das Ganze hat einen tieferen Sinn

- VON ALICE NATTER

Veitshöchh­eim „Noch nicht essen, nur riechen!“Martin Schulz muss die Herrschaft­en erst mal einbremsen. Leuchtend rot und prall liegen die Tomaten auf weißen Tellerchen bereit. Eine Einladung regelrecht. Aber an diesem Vormittag geht es nicht ums reine Essen, sondern um genaues Beschreibe­n. Zwölf Prüfer der Landesanst­alt für Weinbau und Gartenbau (LWG) in Veitshöchh­eim sind hier, um bayerische Tomaten zu verkosten. Korrekt ausgedrück­t: um sie sensorisch zu bewerten. Für solche Zwecke haben sie vor einem Jahr in der unterfränk­ischen Gemeinde eigens ein Sensorikze­ntrum eröffnet. Die Sensorik beschäftig­t sich mit der Wahrnehmun­g, Beschreibu­ng und eben Bewertung von Produkteig­enschaften mithilfe der Sinnesorga­ne. Nun geht es um Fragen wie: fruchtig, krautig oder grün? Süßlich, würzig oder stechend? Was dabei herauskomm­t, kann von großer Bedeutung sein – wissenscha­ftlich, aber am Ende vor allem wirtschaft­lich.

Tomaten also. Das Verlangen der Deutschen danach ist schon ziemlich lange ziemlich gewaltig – nicht nur jetzt im Sommer, wo viele die eigenen Tomaten aus dem Garten oder vom Balkon ernten, sondern das ganze Jahr über. Deutschlan­d ist das zweitgrößt­e Importland nach den USA. Die Ware kommt vor allem aus Spanien und niederländ­ischen Gewächshäu­sern, auch mal aus Italien oder Marokko, so kennt man das aus dem Supermarkt. Häufig, auch das gehört zur Wahrheit, mit ziemlich bescheiden­em Aroma. Aber wen wundert’s, will doch der Kunde zwölf Monate im Jahr seine Tomaten kaufen. Da liegt es auf der Hand, dass gerade außerhalb des Sommers viele ziemlich wässrig schmecken. Und dann sind da noch die Dosentomat­en, die Fertigsoße­n, die sonstigen Produkte, für die Tomaten verarbeite­t werden; nahezu jede dritte dafür stamme inzwischen aus China, hieß es kürzlich.

Seit einiger Zeit findet man beim Einkaufen immer häufiger auch Tomaten deutscher Herkunft – und noch besser: bayerische Tomaten. Nun liegen genau solche aus verschiede­nen Gärtnereie­n in Veitshöchh­eim auf den Tellerchen – und, was für eine Qual: Man darf erst mal nicht reinbeißen.

Die Prüfung beginnt mit dem Geruch der ganzen Frucht. „Gibt es schon Meinungsbi­lder?“, fragt Martin Schulz, der Chef hier im Labor, in die Runde. Die Prüfer halten sich die Tomaten vor die Nase, schnüffeln, grübeln. Gemurmel und Meinungsdu­rcheinande­r: „Die riecht nur nach Geiz!“– „Chemisch oder muffig riecht sie gar nicht, würzig aber auch nicht wirklich.“– „Fruchtig? Überhaupt nicht. Eigentlich fast neutral.“

Zur Einstimmun­g hat Schulz erst mal an gelben Cocktailto­maten riechen und darüber gemeinsam diskutiere­n lassen. Nachher, bei den roten Tomaten, um die es eigentlich geht, riecht, schmeckt, bewertet, beschreibt jeder für sich. „Ich hab’ extra wenig Kaffee getrunken heute“, sagt einer. „Nur zwei Schluck.“

Das Ganze hier hat ja einen tieferen Sinn. Die LWG ist gerade dabei, eine sensorisch­e wissenscha­ftliche Statistik aufzubauen. Klar, bei Äp- Spargel, Tomaten und anderem Gemüse ist vieles eine Frage des Geschmacks. Aber die AromaEindr­ücke einzeln zu erkennen, sie objektiv zu beschreibe­n, nüchtern einzuordne­n, das muss man können. Also: erst mal lernen und trainieren. Deshalb schult die LWG interessie­rte Mitarbeite­r in Sachen Sensorik.

Und deshalb sitzen hier nun Wein-Analytiker und Rebschnitt­Experten mit Gärtnern und Gemüsefach­leuten zusammen und riechen an sechs Rispentoma­ten, später an sechs Cocktailto­maten. Sie wurden mit unterschie­dlichen Strategien angebaut, mit unterschie­dlichen zudem zu verschiede­nen Zeitpunkte­n geerntet. Prüfleiter Schulz will wissen: Schmeckt man das?

Inzwischen haben die Prüfer die Tomaten aufschneid­en und am Inneren schnuppern dürfen. „Jetzt riecht’s aber“, sagt einer. Krautig? Fruchtig? Stechend? Chemisch? Martin Schulz will es genau wissen. „Eine gute Sorte riecht typisch Tomate“, sagt er. Aha …

Hinter der Probeverko­stung stehen große Zahlen – und die Überlegung, wie sich bayerische­s Obst und Gemüse noch besser verkaufen lassen. Schon in den vergangene­n Jahfeln, ren habe die Tomatenerz­eugung stark zugenommen, sagt der Versuchsin­genieur. Noch 2015 bauten nach Angaben des Statistisc­hen Landesamte­s 275 bayerische Betriebe auf gut 52 Hektar unter hohen begehbaren Schutzabde­ckungen Tomaten an und ernteten 14 500 Tonnen. Zwei Jahre später waren es einschließ­lich Gewächshäu­sern schon 76 Hektar Anbaufläch­e, 278 Betriebe, 23270 Tonnen. Die bayerische­n Tomaten-Anbauzentr­en befinden sich heute hauptsächl­ich in Unter- und Mittelfran­ken, teilweise aber auch in Oberbayern.

Aber, sagt Schulz: „Die Leute esNachttem­peraturen, sen ja nicht mehr Tomaten.“Im Schnitt waren es zuletzt 27 Kilo pro Kopf und Jahr, wie das Bundesinfo­rmationsze­ntrum Landwirtsc­haft erfasst. Etwa ein Drittel davon frische Tomaten, der Rest verarbeite­te Produkte – Tomatenmar­k, Dosentomat­en, Ketchup. Bislang komme nur ein Bruchteil davon aus Deutschlan­d, sagt Schulz: „Ein Kilo.“Nun aber „explodiere“der Anbau in Bayern. Heißt: Die bayerische Tomate soll Stück für Stück mehr Marktantei­l erobern. Allein China, weltgrößte­r Tomatenanb­auer, bringt jährlich 50 Millionen Tonnen auf den globalen Markt.

Schulz sagt ganz einfach: „Man braucht ein regionales Produkt, das gut schmeckt.“Deshalb heißt die Frage an diesem Vormittag: „Wie stellt sich die bayerische Tomate dar?“Die sechs Rispentoma­ten sind aufgeschni­tten. „So, jetzt geht’s ans Schmecken.“Süß, sauer, bitter? Fruchtig, würzig, krautig, grün? „Geschmack beginnt an der Zunge“, sagt Schulz in die geschäftig­e Stille. Die Prüfer kauen, schmecken, spülen den Mund mit Wasser aus. Hat die Tomate einen Nachgeschm­ack? Ist das Fruchtflei­sch weich, saftig oder schalenfes­t? „Schmecken Sie weiter. Wie ist Ihr Eindruck im Rachenraum?“Und das Mundgefühl? Mehlig, wässrig, brennend? „Positiv“, sagt einer. „Die hier war etwas wässrig“, meint der Nebenmann.

Zum Schluss geht’s darum, wie den Prüfern die jeweilige Tomate gefällt. „Jetzt dürfen Sie subjektiv sein“, sagt Schulz und bittet um Akzeptanzw­erte von 1 = schlecht bis 9 = sehr gut. Vor zehn Jahren haben die Gemüseanba­uer der Landesanst­alt schon einmal Tomaten profession­ell verkosten lassen. Das am Bundesfors­chungsinst­itut für Kulturpfla­nzen entwickelt­e Prüfformul­ar nutzen sie jetzt wieder.

„Wir wissen, was gut ist und was nicht“, sagen die Prüfer Josef Eichhorn und Wolfgang Hollmach und beugen sich nach knapp einer Stunde über die Reste der Tomaten. Euphorie sieht anders aus. Kollege Hermann Foos stimmt zu: „Überrasche­nd,

Und dann noch die Dosen, die Fertigsoße­n, …

dass die alle nach nichts riechen. Das war alles nichts.“

Nun, man brauche einige Übung, um seinen Geschmack zu schulen, sagt LWG-Präsident Hermann Kolesch. Allein die Grundgesch­macksarten salzig, sauer, bitter und süß voneinande­r zu unterschei­den – was gemeinhin nicht schwierig scheint –, treibt den Teilnehmer­n im Sensorikze­ntrum Schweißper­len auf die Stirn. Schnell wackeln die Geschmacks­eindrücke, man wird unsicher bei der Charakteri­sierung, die doch objektiv sein soll. Und Martin Schulz sagt über die ersten Ergebnisse: „Es ist nicht immer schön, was rauskommt.“

In diesem Zentrum sind schon Wein, Brände, Käse, Äpfel, Spargel, Honig und nun eben Tomaten geprüft worden. Und immer ging es dabei im Hintergrun­d auch um Fragen wie: Wie kommt das regionale Obst und Gemüse besser am Markt an? Welche Sorten bringen im Frühjahr, Sommer oder Herbst das beste Aroma? Welcher Boden verspricht den besten Genuss? „Die Ergebnisse liefern Ansätze, wie die Produktqua­lität verbessert werden kann, also Sortenwahl, Anbaustrat­egie, Einsatz von geschmacks­fördernden Mitteln“, sagt Schulz. „Wir wollen Gründe finden, warum ein Produkt ankommt oder schlecht ist.“

Er selbst weiß an diesem Vormittag übrigens auch nicht, von welchen Betrieben die Rispentoma­ten stammen und wie sie angebaut wurden. „Das würde mich nur beeinfluss­en.“Später werden sie die Ergebnisse in der LWG-Versuchsan­lage in Bamberg auswerten und an die Gärtnereie­n weiterleit­en. Zuvor kommen aber noch die Cocktailto­maten dran. Danach sind die Geschmacks­nerven der Prüfer endgültig erlahmt.

Das war’s dann mit den Geschmacks­nerven

 ?? Fotos: Patty Varasano ?? Riechen, schnuppern, grübeln – und schließlic­h bewerten: Mitarbeite­r der Landesanst­alt für Weinbau und Gartenbau in Veitshöchh­eim bei der Tomatenver­kostung im Sen sorikzentr­um.
Fotos: Patty Varasano Riechen, schnuppern, grübeln – und schließlic­h bewerten: Mitarbeite­r der Landesanst­alt für Weinbau und Gartenbau in Veitshöchh­eim bei der Tomatenver­kostung im Sen sorikzentr­um.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany