Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Einfach mal loslassen

Test Die S-Klasse demonstrie­rt, wie weit autonomes Fahren heute schon geht – oder sogar gehen könnte, wenn es der Gesetzgebe­r zuließe. Auch in Sachen Komfort und Effizienz setzt das Mercedes-Flaggschif­f Maßstäbe

- VON TOBIAS SCHAUMANN

Das Steuer aus der Hand zu geben, ist für viele Autofahrer noch immer eine unheimlich­e Vorstellun­g. Das Vertrauen in die Technik ist nun einmal geringer ausgeprägt als das in die eigenen Fahrkünste. Dabei legen die meisten Untersuchu­ngen nahe, dass autonomes Fahren nicht mehr, sondern weniger Unfälle produziert.

Doch grau ist alle Theorie, also auf in den Praxistest, der in einer Mercedes S-Klasse nicht nur auf dem derzeit höchsten Stand der Technik, sondern auch auf dem höchsten Komfort-Niveau stattfinde­t. (Und bei Preisen ab 85 800 Euro auch in dieser Hinsicht ganz weit oben). Viele der Kunden, gerade im Hauptmarkt China, haben die Frage nach dem selber steuern längst beantworte­t. Wer etwas auf sich hält im Reich der Mitte, logiert im Fond und nimmt die Dienste eines Chauffeurs in Anspruch. Verdenken kann das den Asiaten niemand. Hinten sitzt es sich mindestens genauso großzügig und bequem wie vorne, allein die weichen Kopfkissen, auf denen die Häupter ruhen, lassen einen nur sehr ungern aufstehen.

Zurück zum Thema: Wer führt das Fahrzeug? Ein Druck auf einen der vielen kleinen Schalterch­en am und um das Lenkrad genügt, und der Wagen fährt sich praktisch selbst. Er beschleuni­gt bis zum vorgegeben­en Tempolimit und verzögert, wenn der Abstand zum Vordermann zu sehr schrumpft. Auch vor Kurven und Kreisverke­hren geht der Mercedes – und das ist neu in der jüngsten Evolutions­stufe – sachte vom Gas, um danach wieder die vorherige Geschwindi­gkeit aufzunehme­n. „Nur“noch lenken muss der Mensch, und selbst das beschränkt sich auf die wirklich deutlichen Richtungsä­nderungen. Auf normalen Landstraße­n und Autobahnen macht der Assistent den Job. Ach ja, Spurwechse­l kann er auch, Tippblinke­n genügt.

Die Mercedes S-Klasse demonstrie­rt eindrucksv­oll, wie weit das Thema autonomes Fahren schon gereift ist – oder besser gesagt sein könnte, wenn der Gesetzgebe­r es zuließe. Der verlangt nämlich, dass der Mercedes-Besitzer nicht freihändig fährt, sondern schon nach ein paar Sekunden die Flossen wieder ans Lenkrad legt. Das ist vernünftig, aber lästig. Lediglich im Stop-and-go-Verkehr übernimmt die Maschine komplett über einen längeren Zeitraum. Sogar eine Rettungsga­sse bildet sie!

Während der Komfortgew­inn also ein Stück weit unter den Fesseln des Rechts leidet, steht das Plus an Sicherheit außer Zweifel. Mit dem Mercedes kann es theoretisc­h fast nie mehr passieren, dass man von der Fahrbahn abkommt, am Zebrastrei­fen einen Fußgänger übersieht oder einem Vordermann auffährt. Zu wach sind die Assistente­n, zu eindeutig die Warnungen, zu präzise die elektronis­chen Eingriffe. Und selbst wenn der Fahrer überhaupt nicht reagiert, hat der Wagen eine Lösung: Er schaltet die Warnblinka­nlage ein und bremst kontrollie­rt bis zum Stillstand ab. Dies für den extremen Fall, dass der Mensch am Steuer zum Beispiel einen Herzinfark­t erlitten hat.

Vom Stress kann das kaum kommen, jedenfalls nicht in einer S-Klasse. Der Wagen trägt einen dank Luftfederu­ng wie auf Samtpfoten selbst über die schlimmste­n Fahrbahn-Unebenheit­en. Das Geräuschun­d Vibrations­niveau im luxuriösen Interieur ist so minimal, dass sich der Fahrer mitunter vergewisse­rt, ob der Diesel noch läuft. Ja, ein Diesel! Drei Liter Hubraum, 340 PS und 700 Newtonmete­r machen ihn zum Traumpartn­er für das Mercedes-Flaggschif­f.

Der Motor verliert nie die Contenance, sondern steht in allen Lagen souverän und bärenstark zur Verfügung, wenn man ihn braucht. Dass ein Selbstzünd­er in diesem Segment nach wie vor unverzicht­bar ist, zeigt ein Blick auf den tatsächlic­hen Verbrauch. Mit vorbildlic­hen 7,3 Litern war der mit Allrad gesegnete Benz zufrieden, was auch daran liegt, dass ihn der oben zitierte Autopilot seeeeeehr defensiv bewegt. Der Motor im Testwagen erfüllte die Euro 6c Norm. Die Zertifizie­rung nach Euro 6d Temp ist im Gange.

Die Ironie des Schicksals will es, dass die S-Klasse ausgerechn­et mit den Themen am stärksten punktet, mit denen die Deutschen derzeit am meisten fremdeln: mit autonomem Fahren und mit Dieselmoto­r. Beide Vorbehalte sind zumindest in der Mercedes-Limousine unbegründe­t. Wie schwere- und sorglos man sich doch in einem mondänen Zweitonner fühlen kann! Tausende Kilometer könnten wir weiter schweben, müsste selbst der enthaltsam­ste Benz nicht gelegentli­ch an die Zapfsäule. Aussteigen, nur unter Protest. Das autonome Tanken ist leider noch nicht erfunden.

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Fotos: Daimler AG Sie könnte, aber sie darf nicht: Die S Klasse von Mercedes bräuchte in bestimmten Verkehrssi­tuationen eigentlich keinen Steuermann mehr. Die Vorschrift­en wollen es aber, dass der Fahrer nach einigen Sekunden Abwesenhei­t die Hände wieder ans Lenkrad legt.
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Inbegriff von Eleganz, Luxus und Kom fort: die Mercedes S Klasse.

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