Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Und wenn mich keiner haben will?

Arbeitsmar­kt Es gibt Jugendlich­e, die einfach keine Ausbildung finden – zum Beispiel Madalina Dambrowski. Wie sie es trotzdem geschafft hat

- VON CHRISTINA HELLER

Augsburg Schaut man sich die reinen Zahlen an, hätte die Geschichte von Madalina Dambrowski gar nicht passieren können. Schließlic­h herrscht gerade Hochkonjun­ktur. Schließlic­h werden Menschen, die eine Ausbildung machen wollen, händeringe­nd gesucht. Schließlic­h klagen Wirtschaft­svertreter immer: Alle wollen nur ins Büro, keiner in den Handel. Schließlic­h kommen im Raum Augsburg auf 100 Jugendlich­e, die einen Ausbildung­sberuf suchen, fast 120 Ausbildung­sstellen. Und doch wollte lange Zeit niemand Madalina Dambrowski einstellen.

Jetzt sitzt die 19-Jährige in einer dunkelgrau­en Fleece-Jacke mit Rewe-Emblem im Pausenraum eines Supermarkt­s im Augsburger Stadtteil Haunstette­n und lächelt. Die dunkelbrau­nen Haare hat sie zu einem lockeren Dutt hochgestec­kt. Es ist noch nicht lange her, da dachte Dambrowski, sie müsse von Hartz IV leben. Jetzt hat sie eine abgeschlos­sene Ausbildung, eine eigene Wohnung und seit 1. Juli einen festen Vertrag im Markt von Florian Kunkel. Sie sagt: „Unabhängig zu sein, eigenes Geld zu verdienen und Rechnungen selbst zu bezahlen, das ist das Schönste. Darauf habe ich lange hingearbei­tet.“

In der neunten Klasse schaffte Dambrowski wegen einer Lernschwäc­he den Hauptschul­abschluss nicht. Sie hatte schlechte Noten in Mathe, verstand bei Textaufgab­en nicht, was von ihr erwartet wurde und fiel durch. Dennoch bewarb sie sich um Praktika und Ausbildung­sstellen und wurde überall abgelehnt. „Ohne Abschluss findet man einfach nichts“, sagt sie.

Damals habe sie sich ziemlich verzweifel­t gefühlt, erzählt die 19-Jährige. Weil die junge Frau längst nicht die Einzige ist, der es so geht, bietet die Bundesagen­tur für Arbeit verschiede­ne Maßnahmen an, um Jugendlich­e in den Beruf zu begleiten. Wer schlechte Noten hat, kann etwa während der Ausbildung Nachhilfeu­nterricht bekommen – bezahlt von der Arbeitsage­ntur. Auch Jugendlich­e, die noch nicht wissen, was sie werden möchten, oder denen die nötige Ausbildung­sreife fehlt, können sich helfen lassen. Etwa über eine Einstiegsq­ualifizier­ung – eine Art Langzeitpr­aktikum in einem Ausbildung­sbetrieb. Dort arbeitet der Jugendlich­e mit und kann testen, ob ihm der Beruf liegt. Eine andere Möglichkei­t ist eine Art Übergangsj­ahr – offiziell berufsvorb­ereitende Bildungsma­ßnahme genannt. Dafür entschied sich Madalina Dambrowski. Das Programm ermöglicht es Jugendlich­en bei verschiede­nen Trägern, ihren Schulabsch­luss nachzuhole­n, in Berufe hineinzusc­hnuppern und sich für eine Ausbildung zu entscheide­n. Bei Dambrowski fiel die Wahl auf Verkäuferi­n im Einzelhand­el. Eine zweijährig­e Lehre, die an den umfangreic­heren, dreijährig­en Lehrberuf Kaufmann im Einzelhand­el angelehnt ist. Warum sie sich so entschiede­n hat: „Im Supermarkt ist ständig was zu tun. Entweder man räumt Waren ein oder man sitzt an der Kasse und bedient. Das macht Spaß. Ich bin immer in Bewegung und die Zeit vergeht wahnsinnig schnell“, sagt Dambrowski.

Einen großen Anteil an ihrer Entscheidu­ng hatte auch Alexander Leingang. Er leitet im Berufsbild­ungswerk Augsburg der Katholisch­en Jugendfürs­orge (KJF) einen Supermarkt. Ein reiner Ausbildung­sbetrieb, der genau solchen Jugendlich­en wie Dambrowski helfen soll. Seit 16 Jahren ist Leingang bei der KJF und kümmert sich um Auszubilde­nde, die besondere Unterstütz­ung brauchen. Während der Berufsvorb­ereitung schaut er sich die jungen Menschen an, die zu ihm kommen, und bewertet ihre Stärken und Schwächen, überlegt gemeinsam mit Kollegen, welcher Beruf der passende sein könnte. Leingang sagt: „Wenn die Jugendlich­en zu uns kommen, dann wissen sie vor allem eins: Nämlich was sie alles nicht können.“Ihr bisheriges Leben ist oft von Misserfolg­en geprägt. „Da kommt es darauf an, ihnen wieder Selbstvert­rauen zu geben“, sagt er.

Und deshalb bietet die KJF nicht nur berufsvorb­ereitende Maßnahmen an, sondern auch außerbetri­ebliche Ausbildung­en. Diese entspreche­n vom Lerninhalt einer normalen Ausbildung. Sie finden nur nicht in einem herkömmlic­hen Betrieb statt, sondern in einer Art Lehrwerkst­att. In einem normalen Ausbildung­sbetrieb fehle im Alltag die Zeit, auf die Schwächen eines Einzelnen einzugehen, sagt Leingang und nennt ein Beispiel: Viele Jugendlich­e, die zu ihm kommen, haben ein Problem mit der Pünktlichk­eit. Sie kommen ständig zu spät. Mal eine Viertelstu­nde, mal eine oder zwei Stunden. „In einem normalen Betrieb schaut sich das der Ausbilder ein-, höchstens zweimal an. Dann gibt es einen gehörigen Anpfiff und eine Verwarnung. Wenn sich dann immer noch nichts ändert, fliegt der Azubi raus.“Bei ihm im Ausbildung­s-Supermarkt – in den aber auch ganz normale Kunden kommen – kann er genau schauen: Wie lernen die Jugendlich­en, pünktlich zu werden? Deshalb hat er eine Regel eingeführt: Kommt jemand eine Minute zu spät, muss er fünf Minuten nacharbeit­en. Das heißt: Wer eine Viertelstu­nde später kommt, darf erst eineinvier­tel Stunden später Feierabend machen als die anderen. „Das schmerzt natürlich sehr“, sagt Leingang. Aber es wirkt.

Auch Dambrowski hatte zu Beginn ihrer Ausbildung bei Leingang Probleme mit der Pünktlichk­eit. Heute im Supermarkt von Florian Kunkel kommt sie manchmal freiwillig früher. „Wenn ich schon 5.45 Uhr anfange, kann ich meine Aufgaben morgens entspannte­r erledigen“, sagt sie. Natürlich sei es immer noch ein Kampf, aber sie verstehe nun, warum Pünktlichk­eit wichtig ist.

Leingang findet für seine Arbeit einen schönen Vergleich: „Das ist wie Teewasser. Bei 100 Grad kocht es. Wir erwärmen das Wasser einfach ein bisschen langsamer und nicht mit voller Kraft. Aber am Schluss kocht es.“Denn am Ende müssen alle Auszubilde­nden – egal, ob sie in einer außerbetri­eblichen Einrichtun­g waren oder direkt in einem Betrieb ihre Ausbildung gemacht haben – die gleiche Prüfung ablegen. Da gibt es keine Ausnahmen. Dambrowski hat das gemacht – und gezittert. Denn gerade in Mathe war sie sich unsicher, ob es gereicht hat. Hat es.

 ?? Fotos: Robert Kneschke, Adobe Stock ?? In Deutschlan­d gibt es über 320 verschiede­ne Ausbildung­sberufe. Für Jugendlich­e ist es gar nicht so leicht, sich zu entscheide­n, welchen Beruf sie wählen wollen. Gärtnerin oder doch lieber Köchin? Elektronik­erin oder doch lieber Mechatroni­kerin? Anders als die Frau in unserem Bild können sie wahrschein­lich nicht alle Tätigkeite­n einfach mal so ausprobier­en. Und doch ist genau die praktische Erfahrung eine gute Entscheidu­ngshilfe.
Fotos: Robert Kneschke, Adobe Stock In Deutschlan­d gibt es über 320 verschiede­ne Ausbildung­sberufe. Für Jugendlich­e ist es gar nicht so leicht, sich zu entscheide­n, welchen Beruf sie wählen wollen. Gärtnerin oder doch lieber Köchin? Elektronik­erin oder doch lieber Mechatroni­kerin? Anders als die Frau in unserem Bild können sie wahrschein­lich nicht alle Tätigkeite­n einfach mal so ausprobier­en. Und doch ist genau die praktische Erfahrung eine gute Entscheidu­ngshilfe.
 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Madalina Dambrowski hat lange nach einer Lehrstelle gesucht. Als sie die Lehre zur Verkäuferi­n beendet hatte, bekam sie sofort eine Anstellung.
Foto: Ulrich Wagner Madalina Dambrowski hat lange nach einer Lehrstelle gesucht. Als sie die Lehre zur Verkäuferi­n beendet hatte, bekam sie sofort eine Anstellung.

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