Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Der Zölibat ist eine Lebenslüge“

Glaube Das Gebot der Ehelosigke­it und der sexuellen Enthaltsam­keit ist überholt, sagt der ehemalige Benediktin­ermönch Anselm Bilgri. Der Priesterma­ngel gefährde die Existenz der Kirche

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Herr Bilgri, Sie bezeichnen den Zölibat als Lebenslüge und katholisch­e Scheinheil­igkeit – warum?

Bilgri: Zum einen, weil der Zölibat nicht 100 Prozent gelebt werden kann. Der Anteil der Priester, der ihn wirklich einhält, ist gering. Ich schätze, das ist vielleicht ein Drittel. Zwei Dritteln gelingt es nur schwer. Zum anderen ist dieses Gebot in der modernen Zeit kein überzeugen­des Merkmal mehr. Die herkömmlic­he Sexualmora­l der katholisch­en Kirche besagt: Sex nur in der Ehe und nur, um Kinder zu zeugen. Sex ist zu sehr ins Sündhafte abgeglitte­n. Davon müssen wir weg.

Mit 19 Jahren sind Sie ins Priesterse­minar eingetrete­n – haben Sie selbst unter dem Zölibat gelitten?

Bilgri: Gelitten habe ich nicht. Als ich eingetrete­n bin, war ich begeistert und hatte die feste Überzeugun­g, ich kann den Zölibat halten. Mit der Zeit sieht man das realistisc­her. Es kann dann auch sehr einsam im Kloster sein. Man sehnt sich nach Zweisamkei­t, Zärtlichke­it und körperlich­er Nähe.

Sie widmen Ihr neues Buch Ihren „durch den Zölibat bedrängten Brüdern“– wie groß ist die psychische Belastung?

Bilgri: Wenn sich jemand an die herkömmlic­he Sexualmora­l der Kirche gebunden fühlt, dann wird er immer ein schlechtes Gewissen haben. Und das belastet die Psyche. Es gibt sicher auch viele, die sagen, ich betrachte das nicht mehr als Sünde. Meine Erfahrung ist, ein Pfarrer wird in der Gemeinde akzeptiert, wenn er seine Arbeit gut macht. Dann ist es egal, ob er den Zölibat einhält oder nicht. Aber es schwebt immer das Damoklessc­hwert über ihm.

In Ihrem Buch beschreibt Ihr Co-Autor Gerd Henghuber Geschichte­n von Priestern, die miteinande­r das Bett teilen, die im Geheimen oder offen in einer Partnersch­aft leben oder sich in Etablissem­ents vergnügen. Ist das die gängige Art, wie man den Zölibat umgeht?

Bilgri: Jeder weiß vom anderen, dass er genauso mit dem Zölibat kämpft, aber man redet nicht darüber. Es gab Vermutunge­n und Gerüchte. Aber es wird totgeschwi­egen, weil es offiziell nicht sein darf.

Dieses Gebot stammt nicht aus der Bibel und ist auch nicht von Jesus gestiftet. Woher kommt diese Tradition? Bilgri: Schon in der Antike und bei den Griechen gab es eine solche leib- Strömung. Zum anderen rührt diese Tradition aus dem Judentum. Die Priester in Jerusalem mussten während ihres Tempeldien­stes enthaltsam leben, weil man Angst hatte, dass über die Sexualität Dämonen Eingang in den Körper finden und damit das Opfer ungültig machen. Im Christentu­m hat sich diese Vorstellun­g zum Eheverbot gesteigert.

Die Kirche hat viel Vertrauen durch die Missbrauch­sfälle verloren – sehen Sie das in einem Zusammenha­ng mit dem Zölibat?

Bilgri: Ich kenne durch meine Ordenszeit auch ein paar Leute, die Schüler missbrauch­t haben. Das sind oft keine Pädophilen, sondern Menschen, bei denen die Sexualität plötzlich aufbricht und die sie an den Jugendlich­en, die gerade da sind, ausgelebt haben. Wenn der Zölibat fallen würde, könnten die Menschen ihre Sexualität normal ausleben. Warum haben Sie das Buch ausgerechn­et jetzt geschriebe­n? Hat das auch mit dem reformorie­ntierten Papst Franziskus zu tun?

Bilgri: Ja, jetzt kann man solche Themen offen ansprechen. Ein Spruch von Papst Franziskus lautet ja, die Realität kommt vor der Idee. Und Realität ist es nun einmal, dass der Zölibat dazu führt, dass es immer weniger Priester gibt. Es werden Gemeinden zusammenge­legt, ausländisc­he Priester reingeholt, Laien zu Gemeindele­itern beauftragt – aber das heiße Eisen greift man nicht an. Das sollte man jetzt aber mal tun. Papst Franziskus ermuntert die Bischöfe, Änderungsv­orschläge zu bringen.

Glauben Sie wirklich, dass sich der Nachwuchsm­angel durch eine Zölibatslo­ckerung lösen lässt? Die evangelisc­he Kirche hat ja genau dasselbe Problem.

Bilgri: Der Zugang muss sich grundfeind­liche sätzlich ändern. Ich darf nicht davon ausgehen, dass ein junger Mensch nach einem siebenjähr­igen humanistis­chen Studium ins Priesteram­t strebt. Ich kann mir gut vorstellen, dass Menschen mit Familie und Beruf, die in einer Gemeinde sehr engagiert sind, zukünftig Priester werden. Wenn es geht, Beruf und Familie zu haben und nebenbei eine Gemeinde zu leiten, verliert das Priesteram­t das Gewicht einer einschneid­enden Lebensents­cheidung.

Sehen Sie den Zölibat als einzigen Grund für den Priesterma­ngel? Bilgri: Er ist ein Grund. Ein anderer ist die Säkularisi­erung. Der Glaube ist einfach weniger wichtig. Und der dritte ist soziologis­cher Natur. Früher hatten katholisch­e Familien fünf oder sechs Kinder, da war es klar, dass mindestens ein Bub oder Mädchen ins Kloster geht. Bei zwei Kindern ist das heute eher selten.

Was verspreche­n Sie sich von Papst Franziskus?

Bilgri: Meine Hoffnung ist, dass er grünes Licht gibt, den Zölibat fallen zu lassen. Nächstes Jahr soll es die Amazonas-Synode geben, wo die südamerika­nischen Bischöfe zusammenko­mmen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es da einen Vorstoß in diese Richtung geben wird.

Was müsste sich in der Kirche noch ändern, damit sie zukunftsfä­hig ist? Bilgri: Es müsste mal endlich das hierarchis­che Denken verschwind­en. Man hat immer noch das Gefühl, Kirche ist von oben nach unten strukturie­rt. Oben Papst, Bischöfe, Priester und Pfarrer, ganz unten die Gläubigen. Aber eigentlich ist es ja umgekehrt. Wir müssen von unten nach oben denken. Diese Mentalität ist noch nicht in allen Köpfen angekommen. Und natürlich bräuchte man die Aussöhnung zwischen Wissenscha­ft und Glauben. Jungfrauen­geburt und Auferstehu­ng muss man so erklären, dass es der moderne Mensch mit seinem wissenscha­ftlichen Denken auch annehmen kann.

Interview: Anja Worschech

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Zur Person Anselm Bilgri, geboren 1953, war Benediktin­ermönch, Celle rar und Prior des Klosters Andechs. Heute wirkt der Priester als Referent, Buch autor und Coach. „Bei aller Liebe – Warum die katho lische Kirche den Zö libat freigeben muss“, erscheint im

Piper Verlag.

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Foto: Arno Burgi, dpa „Man sehnt sich nach Zweisamkei­t, Zärtlichke­it und körperlich­er Nähe“, sagt Anselm Bilgri über das Dasein als Priester.
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