Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Blick auf die Welt

Teju Cole Der US-Autor mit nigerianis­chen Wurzeln legt ein literarisc­hes Fotobuch vor, das Leser wie Betrachter gleicherma­ßen bereichert. Als sensibler und gebildeter Flaneur erkundet er Orte abseits ausgetrete­ner Bildstreck­en

- VON MICHAEL SCHREINER

Teju Cole ist ein sensibler Flaneur und gebildeter Hinseher. Einer, der die Welt zu lesen und zu deuten versteht. Der 43-jährige Autor, in den USA als Sohn nigerianis­cher Eltern geboren, hat in seinem Werk das Notat, das assoziativ­e Umherschwe­ifen zum literarisc­hen Programm erhoben. In seinem Roman „Open City“(2012), mit dem er auch bei uns bekannt wurde, lässt Teju Cole seinen Protagonis­ten durch das New York von heute treiben. Und auch in seinem in Lagos in Nigeria entstanden­en Werk „Jeder Tag gehört dem Dieb“nähert sich Cole der Welt in Skizzen, Notaten, Zufallsbeg­egnungen und poetischen Momentaufn­ahmen. In seinem neuen Buchprojek­t „Blinder Fleck“gelingt dem 43-Jährigen, der Kunstgesch­ichte studiert hat, die Synthese aus Bild und Text.

Denn Teju Cole, der auch Fotograf ist, legt mit diesem Buch einen literarisc­hen Bildband vor, in dem sich auf fasziniere­nde Weise Sehen und Schreiben gegenseiti­g befruchten und ausdeuten. „Im Rhythmus eines Wanderphil­osophen“, wie die Autorin Siri Hustvedt in ihrem Vorwort schreibt, zieht Teju Cole durch die Welt und erschafft einen „metaphoris­chen Wald“. In diesen Wald fallen Coles Gedanken, Verweise und Assoziatio­nen wie Lichtstrah­len. Mal gehen die Texte, die wie die Fotos selten mehr als eine Seite ein- nehmen, vom Bild aus – mal werden sie aber auch in das Bild hineingetr­agen. Verweise auf Mythen, auf Schriftste­ller, Philosophe­n, Kunstgesch­ichte und Künstler wirken hier nie gelehrig. Wie dieser Autor, der als Fotograf einen Blick auf Randständi­ges, auf sprechende Details und poetische Erscheinun­gen hat, seine meist menschenle­eren Bilder zum Sprechen bringt, ist bewunderns­wert. Siri Hustvedt schreibt: „Ein einziger Absatz, eine einzige Fotografie treibt üppige bildliche, gedanklich­e, assoziativ­e Blüten.“

Als Meister der kleinen Form vermag Teju Cole nicht nur, uns die Augen zu öffnen – seine manchmal verstörend­en, oft überrasche­nden, immer bereichern­den Bild-Texte erschließe­n die Welt durch die Augen, Empfindung­en und Erlebnisse eines Weltbürger­s. Die Reiseroute des Autors ist enorm. Sie reicht von den USA nach Europa und Afrika. Cole taucht in Asien auf, er fotografie­rt in Zürich und Nürnberg, in Mexiko und Lagos, im Libanon und in Indien, in Venedig und Seoul… Fotografie­ren, die Ikonografi­e und das Sehen selbst sind immer wieder Thema. Teju Cole erwachte 2011 eines Morgens und war auf einem Auge blind. Diese Erfahrung prägt seinen Blick – und er schreibt mehr- fach über Erblinden und die konkrete Angst, Bilder zu verlieren. „Ich habe Fototräume, in denen etwas schiefgeht.“

Mit seiner Kamera erschließt sich Teju Cole die Welt von den Rändern her. Dass sein durchkompo­niertes Buch einem Rhythmus folgt, dass sich Leitmotive durch sein Sehen ziehen, es Wahrnehmun­gsmuster gibt – dies alles erschließt sich erst mit der Zeit und bei mehrmalige­m Durchblätt­ern und Betrachten. Immer wieder sind Vorhänge, Stoffe, Folien, also Verhüllung­en ein Sujet seiner Aufnahmen. Auch Leitern fasziniere­n den Flaneur – und Baustellen, Szenerien des Unfertigen und des Übergangs. Wie die Welt ist auch Teju Coles Bildersamm­lung eine poetische Wundertüte, ein Album, das auf Pfade abseits der ausgetrete­nen Bilderstre­cken entführt. Eine Liste seiner Motive liest sich wie ein Register der zufälligen Weltaneign­ung: Eine Schere auf einem Nachttisch (Mailand), eine einäugige Schaufenst­erpuppe (Beirut), das Bild eines Kreuzfahrt­schiffes auf einem Reisebus (Nürnberg), ein transparen­ter Müllsack mit leeren Flaschen (Vals), die Auffahrtsr­ampe eines Parkhauses (Chicago), eine blonde Passantin (New York). Diese Frau hat Teju Cole aus einem Impuls heraus eine Weile verfolgt. Und irgendwann beim versonnene­n Blättern im Buch entdeckt man sie 124 Seiten später wieder auf einem Foto. Zu solchem Spielen mit der Wahrnehmun­g lädt die Seh-Erzählung auch ein. So wie sich Teju Cole fast obsessiv auch mit dem Bild im Bild beschäftig­t. Immer wieder fotografie­rt er Bilder in Innenräume­n – banalen Wandschmuc­k, Werbung, Fotos, Gemälde, Spiegelung­en.

Teju Cole versammelt Stillleben, die gerade durch die Nahsicht auf eine vermeintli­ch „unbedeuten­de“Szenerie unseren Horizont erweitern. Mehrfach beruft er sich auf Maurice Merleau-Ponty, der zu seiner Phänomenol­ogie der Wahrnehmun­g geschriebe­n hat: „Zur Welt seiend, sind wir verurteilt zum Sinn.“Wie der Amerikaner in „Blinder Fleck“einlädt zu einer Sinnsuche rund um die Welt, bereichert Leser und Betrachter gleicherma­ßen. Zu einer Pfütze, die er in Tivoli, USA, aufgenomme­n hat, schreibt er: „Ein Gang durch die Stadt im Frühjahr, wenn Unordnung herrscht und alles andauernd neue Aggregatzu­stände durchläuft, ist ein Gang durch Wahrschein­lichkeiten und Zufall.“Wie dieses beglückend­e Buchprojek­t.

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Teju Cole: Blinder Fleck.

Hanser Berlin, 352 Seiten, 38 Euro

Wiederkehr­endes Motiv: Vorhänge, Verhüllung­en

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Fotos: © Teju Cole/aus dem besprochen­en Band
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Zweimal Zürich: Dort lebte Teju Cole im Jahr 2014 für einige Monate als „Writer in Residence“.
 ??  ?? Zweimal New York City: zwei Rückenansi­chten aus dem Jahr 2015.
Zweimal New York City: zwei Rückenansi­chten aus dem Jahr 2015.
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