Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Blick auf die Welt
Teju Cole Der US-Autor mit nigerianischen Wurzeln legt ein literarisches Fotobuch vor, das Leser wie Betrachter gleichermaßen bereichert. Als sensibler und gebildeter Flaneur erkundet er Orte abseits ausgetretener Bildstrecken
Teju Cole ist ein sensibler Flaneur und gebildeter Hinseher. Einer, der die Welt zu lesen und zu deuten versteht. Der 43-jährige Autor, in den USA als Sohn nigerianischer Eltern geboren, hat in seinem Werk das Notat, das assoziative Umherschweifen zum literarischen Programm erhoben. In seinem Roman „Open City“(2012), mit dem er auch bei uns bekannt wurde, lässt Teju Cole seinen Protagonisten durch das New York von heute treiben. Und auch in seinem in Lagos in Nigeria entstandenen Werk „Jeder Tag gehört dem Dieb“nähert sich Cole der Welt in Skizzen, Notaten, Zufallsbegegnungen und poetischen Momentaufnahmen. In seinem neuen Buchprojekt „Blinder Fleck“gelingt dem 43-Jährigen, der Kunstgeschichte studiert hat, die Synthese aus Bild und Text.
Denn Teju Cole, der auch Fotograf ist, legt mit diesem Buch einen literarischen Bildband vor, in dem sich auf faszinierende Weise Sehen und Schreiben gegenseitig befruchten und ausdeuten. „Im Rhythmus eines Wanderphilosophen“, wie die Autorin Siri Hustvedt in ihrem Vorwort schreibt, zieht Teju Cole durch die Welt und erschafft einen „metaphorischen Wald“. In diesen Wald fallen Coles Gedanken, Verweise und Assoziationen wie Lichtstrahlen. Mal gehen die Texte, die wie die Fotos selten mehr als eine Seite ein- nehmen, vom Bild aus – mal werden sie aber auch in das Bild hineingetragen. Verweise auf Mythen, auf Schriftsteller, Philosophen, Kunstgeschichte und Künstler wirken hier nie gelehrig. Wie dieser Autor, der als Fotograf einen Blick auf Randständiges, auf sprechende Details und poetische Erscheinungen hat, seine meist menschenleeren Bilder zum Sprechen bringt, ist bewundernswert. Siri Hustvedt schreibt: „Ein einziger Absatz, eine einzige Fotografie treibt üppige bildliche, gedankliche, assoziative Blüten.“
Als Meister der kleinen Form vermag Teju Cole nicht nur, uns die Augen zu öffnen – seine manchmal verstörenden, oft überraschenden, immer bereichernden Bild-Texte erschließen die Welt durch die Augen, Empfindungen und Erlebnisse eines Weltbürgers. Die Reiseroute des Autors ist enorm. Sie reicht von den USA nach Europa und Afrika. Cole taucht in Asien auf, er fotografiert in Zürich und Nürnberg, in Mexiko und Lagos, im Libanon und in Indien, in Venedig und Seoul… Fotografieren, die Ikonografie und das Sehen selbst sind immer wieder Thema. Teju Cole erwachte 2011 eines Morgens und war auf einem Auge blind. Diese Erfahrung prägt seinen Blick – und er schreibt mehr- fach über Erblinden und die konkrete Angst, Bilder zu verlieren. „Ich habe Fototräume, in denen etwas schiefgeht.“
Mit seiner Kamera erschließt sich Teju Cole die Welt von den Rändern her. Dass sein durchkomponiertes Buch einem Rhythmus folgt, dass sich Leitmotive durch sein Sehen ziehen, es Wahrnehmungsmuster gibt – dies alles erschließt sich erst mit der Zeit und bei mehrmaligem Durchblättern und Betrachten. Immer wieder sind Vorhänge, Stoffe, Folien, also Verhüllungen ein Sujet seiner Aufnahmen. Auch Leitern faszinieren den Flaneur – und Baustellen, Szenerien des Unfertigen und des Übergangs. Wie die Welt ist auch Teju Coles Bildersammlung eine poetische Wundertüte, ein Album, das auf Pfade abseits der ausgetretenen Bilderstrecken entführt. Eine Liste seiner Motive liest sich wie ein Register der zufälligen Weltaneignung: Eine Schere auf einem Nachttisch (Mailand), eine einäugige Schaufensterpuppe (Beirut), das Bild eines Kreuzfahrtschiffes auf einem Reisebus (Nürnberg), ein transparenter Müllsack mit leeren Flaschen (Vals), die Auffahrtsrampe eines Parkhauses (Chicago), eine blonde Passantin (New York). Diese Frau hat Teju Cole aus einem Impuls heraus eine Weile verfolgt. Und irgendwann beim versonnenen Blättern im Buch entdeckt man sie 124 Seiten später wieder auf einem Foto. Zu solchem Spielen mit der Wahrnehmung lädt die Seh-Erzählung auch ein. So wie sich Teju Cole fast obsessiv auch mit dem Bild im Bild beschäftigt. Immer wieder fotografiert er Bilder in Innenräumen – banalen Wandschmuck, Werbung, Fotos, Gemälde, Spiegelungen.
Teju Cole versammelt Stillleben, die gerade durch die Nahsicht auf eine vermeintlich „unbedeutende“Szenerie unseren Horizont erweitern. Mehrfach beruft er sich auf Maurice Merleau-Ponty, der zu seiner Phänomenologie der Wahrnehmung geschrieben hat: „Zur Welt seiend, sind wir verurteilt zum Sinn.“Wie der Amerikaner in „Blinder Fleck“einlädt zu einer Sinnsuche rund um die Welt, bereichert Leser und Betrachter gleichermaßen. Zu einer Pfütze, die er in Tivoli, USA, aufgenommen hat, schreibt er: „Ein Gang durch die Stadt im Frühjahr, wenn Unordnung herrscht und alles andauernd neue Aggregatzustände durchläuft, ist ein Gang durch Wahrscheinlichkeiten und Zufall.“Wie dieses beglückende Buchprojekt.
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Teju Cole: Blinder Fleck.
Hanser Berlin, 352 Seiten, 38 Euro
Wiederkehrendes Motiv: Vorhänge, Verhüllungen