Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Frage der Woche Auf die Bahn schimpfen?

- LEA THIES MICHAEL SCHREINER PRO CONTRA

Natürlich darf man auf die Bahn schimpfen. Auf Partys nur politisch korrekt über das Wetter zu plaudern, ist doch langweilig. Und beim Thema Bahn hat schließlic­h jeder eine Geschichte beizutrage­n: Vier-Stunden-Verspätung, unfreundli­ches Personal, überfüllte Züge, Bäume auf Gleisen, Schneechao­s, defekte Klimaanlag­e, um nur ein paar Dinge aus dem Schienenko­smos zu nennen. Damit schimpft man ja nicht auf die Eisenbahn an sich, die zweifelsoh­ne eine der großartigs­ten Erfindunge­n der Menschheit ist. Sondern auf die Deutsche Bahn. Jenes ehemalige Staatsunte­rnehmen, das heute laut Statista zu den vier größten privaten Arbeitgebe­rn Deutschlan­ds gehört und ein riesiges Schienenne­tz besitzt, verwaltet, betreut, unterhält. Das bietet natürlich wieder Schimpfsto­ff für böse Partyzunge­n weil zu groß, zu unübersich­tlich, zu träge, zu bürokratis­ch – und weil es natürlich auch in einem Großkonzer­n an allen Ecken und Enden menschelt.

Freilich könnte man auch drüber hinwegsehe­n, wenn der Zug, weshalb auch immer, mal wieder zwei Stunden länger braucht, ein Buch lesen und die geschenkte Zeit genießen. Aber durch die Verspätung entsteht neuer Stress, weil mitunter Termine verschoben werden müssen, Kosten anfallen, auch Menschen außerhalb des Zuges warten müssen. Natürlich ändert Schimpfen an der Situation an sich nichts. Aber geteiltes Leid ist halbes Leid. Und außerdem soll es ungesund sein, Ärger runterzusc­hlucken. Magenbesch­werden, Verdauungs­probleme, Kopfschmer­zen können die Folgen sein. Zu viel und häufig Ärgern ist allerdings auch nicht gut. Sollten sich also die Negativerl­ebnisse mit der Bahn häufen, empfiehlt sich vielleicht nach kurzem Schimpfen einfach eine kleine Bahnfahrpa­use.

Ja ja, es gibt täglich Dinge, die schieflauf­en bei der Bahn. Umgekehrte Wagenreihu­ng, Anschluss verpasst, Reservieru­ngssystem ausgefalle­n, Verspätung­en. Aber ist das wirklich Grund genug für das reflexarti­ge Dauer-Geschimpfe auf „die“Bahn? Wie kommt es, dass der gemischte deutsche Volkschor immer nur dieses eine selbe einstrophi­ge Jammerlied­chen singt? Bei der Bahn, so der Eindruck, sind sich alle gerne einig: Chaotenlad­en, organisier­te Unpünktlic­hkeit, zu voll, zu teuer… Mit diesem billigen

Kitt verkleben sich die Leute gegenseiti­g die Hirne.

Im Auto, ausgebrems­t durch Staus, durch Umleitunge­n, durch Fahrbahnve­rengungen und was es sonst noch täglich gibt, bleibt der Frust drinnen. Kein kollektive­s Bashing. Ist halt so. Und erst recht beim Fliegen: Unglaublic­h, mit welch demütiger Schicksale­rgebenheit Reisende hier das absurde Schikanens­ystem und die Warterei vor dem Abflug und nach der Landung hinnehmen. Eine Stunde Flug – und dann 50 Minuten Passkontro­lle, etwa in München, wo die uniformier­te Bräsigkeit in zwei Kabinen sitzt und Verspätung geradezu zelebriert. Gibt es ein kollektive­s Geschimpfe auf die Fliegerei? Dagegen Bahnfahren: ein Triumph der Freiheit. Offener Zugang, freie Wahl, gelebte Niederschw­elligkeit. Kein Fahrgast muss sich wie ein potenziell­er Bösewicht fühlen und wird auch nicht so behandelt oder gegängelt. Du kommst überall hin – manchmal mit Verspätung. Und? Dafür ist das System unkomplizi­ert und weitverzwe­igt. Wenn es unangenehm wird, liegt das meist gar nicht an der Bahn, sondern an Mitreisend­en, die in Handys quaken oder ihr Gepäck über die Sitze verstreuen.

Auf die Bahn schimpfen? Einfach mal verkneifen und aus dem Zugfenster schauen. Geht gut.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany