Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Katzenjamm­er

Tiere Eine Million streunende Katzen sollen in Bayern leben. Sie verwildern, verwahrlos­en immer mehr und verbreiten Krankheite­n. Doch die Behörden greifen einfach nicht durch, klagen Tierschütz­er. Wie wird man dem Problem Herr?

- VON STEPHANIE SARTOR

Nördlingen Unter der orange-braunen Wolldecke regt sich was. Vier pechschwar­ze Kätzchen spitzeln unter dem flauschige­n Stoff hervor und blinzeln müde in die Sonnenstra­hlen, die durch die Fenstersch­eibe in das kleine, weiß geflieste Zimmer fallen. Eng aneinander gekuschelt liegen die Tierbabys da, schließen dann wieder die Augen und dösen einem sommerwarm­en Nachmittag entgegen. Die Katzenkind­er leben seit wenigen Tagen im Nördlinger Tierheim. Gerade einmal drei Wochen sind sie alt. Sie wurden auf der Straße gefunden, mutterseel­enallein und in einem verheerend­en Zustand, mit verklebten Augen und struppigem Fell. Diese vier Kätzchen sind, wenn man so will, symbolisch für ein ziemlich großes Problem.

Ein Problem, das auf weichen Samtpfoten durch den Freistaat schleicht, in Gärten und Scheunen haust, über Wiesen und Äcker streicht, durch Städte und über einsame Dorffeldwe­ge wandert. Eines, das Tierschütz­er in Rage bringt, dem man vielerorts hilflos gegenübers­teht. Und bei dem man sich fragt: Warum kriegt man es nicht in den Griff?

Die Misere ist die: In Bayern leben unzählige streunende Katzen. Wie viele es genau sind und woher sie kommen, weiß man nicht, weil es keine offizielle­n Statistike­n gibt. Aber die Zahl, die der Landestier­schutzbund gerade genannt hat, klingt erschrecke­nd. Von bis zu einer Million wild lebender Katzen ist die Rede. Und von schlimmen Folgen. Die Tiere verwahrlos­en. Krankheite­n breiten sich aus. Die Zahl der Vögel sinkt, weil sie von den Katzen gejagt werden.

In den meisten Fällen haben die Besitzer die Tiere ausgesetzt, glaubt Andreas Brucker, Geschäftss­tellenleit­er des Landestier­schutzbund­es mit Sitz in Rottenbuch im Landkreis Weilheim-Schongau. Sobald die Tierschütz­er eine streunende Katze gefangen haben, kommt sie ins Tierheim, wird durch einen Chip oder eine Tätowierun­g registrier­t und anschließe­nd kastriert oder sterilisie­rt – in der Hoffnung, dass das Tier an einen neuen Besitzer vermittelt werden kann.

Im Tierheim von Nördlingen leben derzeit 79 Katzen. Rot und getigert, weiß und schwarz sind die Tiere, die sich ganz nah an die Gitterstäb­e drücken, sich an die fremden Hände schmiegen, die über das weiche Fell der Tiere streichen, ihnen den Kopf kraulen. Eine Kindergrup­pe ist an diesem Nachmittag zu Besuch, um etwas über die Arbeit im Tierheim zu lernen und ein bisschen mit den Miezen zu schmusen.

Und vielleicht kommen sie eines Tages wieder, um eines der Tiere abzuholen und mit nach Hause zu nehmen. Das wünscht sich zumindest Manuela Kaußen, die Leiterin der Einrichtun­g. „Platzmäßig wird es langsam eng“, sagt sie. Kaußen, kurze blonde Haare, BlumenTatt­oos auf den Unterarmen, sitzt auf einer Holzbank in der Sonne und nippt an ihrem Kaffee. Dann schlägt sie einen dicken Aktenordne­r auf und lässt die einzelnen Seiten wie ein Daumenkino über ihre Finger hüpfen. „Wir hatten 227 Fundkatzen in einem halben Jahr“, sagt sie. „Die allermeist­en sind Streuner.“Nur ein einziges Tier konnte zu seinem Besitzer zurück. Wem die anderen gehören, ob sie überhaupt ein Zuhause haben, wer weiß das schon?

Der Großteil der Tiere ist weder gechippt noch kastriert. Darum und um die Entwurmung und Impfung kümmert sich das Tierheim. Die Kosten trägt der Tierschutz­verein. Danach sollen die Katzen weiterverm­ittelt werden. Nur: Ganz so einfach ist das nicht. Katzen, die jahrelang auf der Straße gelebt haben, sind oft so wild, dass sie sich nurmehr schwer an den Menschen gewöhnen können. Die Chance, für diese Tiere eine neue Familie zu finden, ist verschwind­end gering. Es sind aber nicht nur diese Problemfäl­le, deretwegen das Tierheim ständig ausgebucht ist. Man muss kein Mathegenie sein, um zu sehen, dass die Rechnung ganz grundsätzl­ich nicht aufgeht: Etwa 40 Katzen werden jeden Monat im Nördlinger Tierheim abgegeben. Nur 15 werden im selben Zeitraum an ein neues Herrchen oder Frauchen vermittelt.

Manuela Kaußen trinkt ihren Kaffee aus und stellt die Tasse vor sich auf dem Holztisch ab. Wenn man sie fragt, was geschehen müsse, um die immens hohe Zahl an Streuner-Katzen zu verringern, muss sie nicht lange nachdenken: „Wer eine Freigänger-Katze hat, sollte verpflicht­et sein, sie zu kastrieren.“Denn das Problem sind nicht nur die vielen herrenlose­n Streuner, die sich extrem vermehren, sondern auch Freigänger, die sich mit den verwildert­en Tieren paaren. Vielen Katzenhalt­ern ist das allerdings egal. Weil ihnen eine Kastration, die im Schnitt zwischen 60 und 100 Euro kostet, zu teuer ist, verzichten sie darauf. „Viele Tierhalter sind einfach unvernünft­ig. Die Politik sollte da endlich einen Riegel vorschiebe­n“, findet Kaußen.

Rechtlich sieht die Sache momentan so aus: Im Tierschutz­gesetz ist die Möglichkei­t der Länder verankert, Maßnahmen zur Verminderu­ng der Zahl frei lebender Katzen zu treffen. Im Freistaat sind nach Angaben des bayerische­n Umweltmini­steriums die Kreisverwa­ltungsbehö­rden zuständig. „Vor Ort kann am besten beurteilt werden, ob wie die Kastration oder das Verbot unkontroll­ierten freien Auslaufs erforderli­ch sind“, teilt ein Sprecher des Ministeriu­ms auf Anfrage mit. Im Fall von Nördlingen wäre dies also das Landratsam­t Donau-Ries. Dort allerdings will man keine Stellung nehmen und verweist auf die Zuständigk­eit der Städte und Gemeinden.

Im betroffene­n Rathaus heißt es nun, „dass die Stadt Nördlingen keine Maßnahmen und Regelungen zum ,Problember­eich streunende Katzen‘ getroffen hat“. Und weiter: „Verschiede­ntlich erreichen uns Beschwerde­n von Anwohnern und Bürgern über streunende Katzen, die an leer stehenden Hofstellen oder einigen Plätzen im Stadtberei­ch anzutreffe­n sind.“Dankenswer­terweise gebe es Ehrenamtli­che, die sich um die verwildert­en Tiere kümmerten. Von der Stadt Nördlingen bekommt der Tierschutz­verein einen geringen Teil der Hundesteue­r, andere Kommunen haben die Möglichkei­t, für 25 Cent pro Einwohner Mitglied im Verein zu werden – nicht alle machen das aber.

Das Tierheim erhält nach Angaben des Tierschutz­vereins keine zusätzlich­e finanziell­e Unterstütz­ung von den Kommunen. Und auch nicht vom Freistaat. Bayern sei das einzige Bundesland, das im Haushalt keine Mittel zur Unterstütz­ung der Tierheime bereitstel­le, beklagt der Landestier­schutzbund und hat deshalb für kommenden Donnerstag zu einer Protestkun­dgebung vor der Staatskanz­lei in München aufgerufen.

Auch im Fall der streunende­n Katzen greifen andere Bundesländ­er offenbar viel härter durch. So haben viele Kommunen in NordrheinW­estfalen und Niedersach­sen bereits eine Kastration­s- und Kennzeichn­ungspflich­t in der Kommunalve­rordnung verankert. Die Stadt Paderborn war 2008 die erste Kommune in Deutschlan­d, die eine solch kombiniert­e Regelung für Katzenbesi­tzer eingeführt hat. Wer sich nicht daran hält, riskiert ein Bußgeld.

Wulf-Dietrich Kavasch hat sich in den vergangene­n Jahren viele Gedanken über das Katzen-Dilemma gemacht. Der 74-Jährige ist seit 30 Jahren Vorsitzend­er des Tierschutz­vereins Nördlingen und arbeitete jahrzehnte­lang als Tierarzt. Kavasch sitzt in seinem Esszimmer im ehemaligen Schulhaus in Hohenalthe­im. Auf dem Tisch steht eine Vase mit pinkfarben­en Rosen, auf dem Boden döst Hund Moppel. Kavasch spricht langsam, wählt seine Worte mit Bedacht und faltet, während er redet, die Hände vor sich auf dem Tisch. „Von amtlicher Seite passiert gar nichts“, klagt er. Schon seit vielen Jahren sei die enorme Katzenpopu­lation im Ries ein bekanntes Problem – verbessert habe sich die Situation aber trotzdem nicht. Dabei könne man ja etwas tun.

Die Kastration möglichst vieler Tiere sei die Stellschra­ube, an der man drehen könne, um das Problem einigermaß­en in den Griff zu beMaßnahme­n kommen, sagt Kavasch. Und damit meint er nicht nur, dass Besitzer ihre Freigänger­katzen kastrieren lassen sollten, sondern auch, dass Streuner eingefange­n, kastriert und dann wieder in die Freiheit entlassen werden sollten, „in einem vernünftig­en Zustand“, wie es der Veterinär nennt.

Genau das macht die Samtpfoten– Katzenhilf­e Ries. Verwildert­e Katzen werden eingefange­n, kastriert und dann wieder freigelass­en oder vermittelt. Vereinsmit­glieder nehmen die Tiere vorübergeh­end bei sich auf. Etwa Gerhard und Walli Huber. In ihrem Haus im kleinen Örtchen Laub, etwa eine viertel Stunde von Nördlingen entfernt, leben derzeit 20 Katzen. Die Hubers bringen sie zur Kastration, päppeln sie auf und – wenn alles gut geht – vermitteln sie an neue Besitzer. Überall stehen Körbchen, im Wohnzimmer auf der Kachelofen­bank, draußen vor der Terrasse, im Gras, unter Büschen. Ein Elektrozau­n sorgt dafür, dass die Tiere nicht ausbüchsen.

Merlin, ein grauer Kater, tapst durchs Gras auf Walli Huber zu. Schwer verletzt landete das Tier vor einigen Wochen bei ihr. Es hatte nässende Wunden an den Beinen und konnte nicht laufen. Alle hatten dazu geraten, das Tier einzuschlä­fern. Aber die Katzenlieb­haberin weigerte sich. Stundenlan­g übte sie mit Merlin, brachte ihm bei, wieder seine Pfoten zu benutzen, und versorgte seine Wunden. „Als er das erste Mal allein gelaufen ist, habe ich angefangen zu weinen“, erzählt sie.

Auch der blinde Kater Nils lebt bei den Hubers – für ihn einen Besitzer zu finden, wird schwer. Niedliche Babykatzen zu vermitteln, sei deutlich einfacher. „Einmal hat der Verein am Samstag eine Anzeige geschaltet und am Montag hatten die Kätzchen schon ein neues Zuhause“, sagt Walli Huber.

Auf so einen Moment warten auch die schwarzen Katzenkind­er im Nördlinger Tierheim. Erst müssen sie aber wachsen und vor allem gesund werden. Denn alle vier leiden an Katzenschn­upfen. Wird der nicht richtig behandelt, kann er tödlich sein. Die kleinen Fellknäuel kuscheln sich unter ihre Wolldecke, fiepen und miauen leise und blinzeln in die Sommersonn­e. Eigentlich sind es nur vier Tierkinder. Aber sie sind auch ein Symbol. Für hunderttau­sende herrenlose Katzen im Freistaat. Und für ein Problem, das man so schnell wohl nicht in den Griff bekommen wird.

Eine Rechnung, die gar nicht aufgehen kann

Ein Tierarzt sagt: Das Problem ist uralt

 ?? Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa ?? Nachts, wenn alles schläft, streunen sie besonders gerne umher, die wilden bayerische­n Katzen. Fakt ist aber auch: Es gibt einfach zu viele von ihnen.
Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa Nachts, wenn alles schläft, streunen sie besonders gerne umher, die wilden bayerische­n Katzen. Fakt ist aber auch: Es gibt einfach zu viele von ihnen.
 ?? Fotos (2): Stephanie Sartor ?? Gerhard und Walli Huber päppeln auf ihrem Grundstück verwildert­e Katzen auf und versuchen, neue Besitzer für sie zu finden.
Fotos (2): Stephanie Sartor Gerhard und Walli Huber päppeln auf ihrem Grundstück verwildert­e Katzen auf und versuchen, neue Besitzer für sie zu finden.
 ??  ?? Manuela Kaußen, Leiterin des Nördlin ger Tierheims, mit zwei Katzenbaby­s.
Manuela Kaußen, Leiterin des Nördlin ger Tierheims, mit zwei Katzenbaby­s.

Newspapers in German

Newspapers from Germany