Augsburger Allgemeine (Land Nord)
„Nationalismen stehen im Vordergrund“
Interview Vor dem EU-Gipfel in Salzburg erklärt der frühere österreichische EU-Kommissar Franz Fischler, warum die Europäische Union das Dogma der Einstimmigkeit überwinden muss
Herr Fischler, wie beurteilen Sie den aktuellen Zustand der EU?
Franz Fischler: Wirtschaftlich ist sie in einem sehr guten Zustand. Doch außerhalb der Wirtschaft wird der Mangel an Willen immer spürbarer, gemeinsame Projekte voranzutreiben. Für die Zukunft Europas wäre es an der Zeit, sich nicht nur um die Migrationsfrage, sondern um die entscheidenden Zukunftsfragen zu kümmern. Darum, wie wir den Klimawandel bewältigen und den Anschluss an die Spitzengruppe der Digitalisierung erreichen wollen. Außenpolitisch müsste Europa jetzt seine Souveränität zeigen. Die Welt erwartet Initiativen. Diese bleiben mangels Einigkeit aus.
Was sind die Ursachen?
Fischler: Nationalismen verschiedenster Art stehen im Vordergrund. Eine wachsende Gruppe von Politikern lautet nicht aus, was an Gemeinschaft möglich ist, sondern lotet aus, wie weit sie gehen kann, ohne den Vorwurf zu bekommen, eine rote Linie zu überschreiten. Es rächt sich, dass man nicht den Mut hat, für bestimmte außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen das Einstimmigkeitsprinzip zu verlassen, wie die Kommission seit langem vorschlägt. Angesichts dessen, was sich in Amerika und anderen Teilen der Welt abspielt, müsste die EU Weltpolitikfähigkeit beweisen. Die Frage der Einstimmigkeit muss in den nächsten Wochen einen prominenteren Platz in der öffentlichen Debatte bekommen.
Durch wen?
Fischler: Sicher durch Sebastian Kurz, aber auch durch Präsident Macron, die Benelux-Länder und natürlich durch Frau Merkel.
Wie könnte man die Einstimmigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik aufheben?
Fischler: Man könnte damit bei Fragen beginnen, die nur ein oder zwei Staaten blockieren. Man müsste dann nicht unbedingt die übliche qualifizierte Mehrheit verlangen. Es könnten auch größere Mehrheiten sein. Aber man muss einen Mechanismus finden, der verhindert, dass ein oder zwei Mitgliedstaaten Entscheidungen blockieren.
Könnte man so die Visegrad-Staaten zähmen?
Fischler: Bei einer ganzen Gruppe wird das schwierig. Dann überfordert man die EU. Aber wenn man einmal den Anfang macht, wird das Dogma der Einstimmigkeit etwas entkrampft.
Trauen Sie Angela Merkel noch zu, eine solche Initiative durchzusetzen? gen drängen: die Brexit-Verhandlungen und das Verhältnis Europas zu Afrika und die Notwendigkeit klarer finanzieller Rahmenbedingungen dafür.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, um Einnahmeverluste zu kompensieren, die durch den Brexit entstehen? Fischler: Das ist aus meiner Sicht nur möglich, indem man die Beiträge erhöht oder beim Agrar- und Regionalfonds Kürzungen vornimmt. Beides zusammen ist das Wahrscheinlichste.
Kann die Landwirtschaft das verkraften?
Fischler: Ein Teil der Kosten wäre dann verkraftbar, wenn gleichzeitig eine Reform der Agrarförderung durchgeführt würde. Man könnte Kosten sparen, indem man das System der Flächenprämien degressiv gestaltet. Großbetriebe sollten nicht
„Es muss verhindert werden, dass ein oder zwei Länder Entschei dungen blockieren.“
dieselbe Flächenprämie bekommen wie Kleinbetriebe. Es ist niemandem zu erklären, dass unter dem Titel einer Sozialmaßnahme einzelne Farmen Millionen pro Jahr kassieren.