Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Sein ganzer Lebensinha­lt ist sein Sohn Klaus

Schicksal Friedrich Tieber kümmert sich intensiv um seinen Sohn, der Autist ist. Das kostet den 73-Jährigen viel Kraft. Es ist die Geschichte eines Vaters und seines Kindes mit traurigen und glückliche­n Momenten. Im Sommer erreichte sie einen tragischen T

- VON INA MARKS

Selbst durch die geschlosse­ne Tür ist die Musik aus dem Nebenraum deutlich im Wohnzimmer zu hören. Friedrich Tieber sagt aber nichts zu seinem Sohn. Der Rentner weiß, wie wichtig Musik für Klaus ist. Er ist froh, wenn sich der 40-Jährige bei ihm in seiner Dreizimmer­wohnung in Pfersee wohlfühlt. Denn unter der Woche lebt Klaus in einem Heim. Klaus ist Autist, von Kindesbein­en an. Er spricht kaum, ist in sich gekehrt, braucht gewohnte Abläufe um sich herum. Sein Vater hat es sich zum Lebensinha­lt gemacht, ihm ein Leben in Geborgenhe­it zu bieten. Doch neulich war selbst er machtlos. Für beide war das wohl die bislang schlimmste Phase ihres Lebens.

Friedrich Tieber sitzt auf der Couch in seiner Wohnung und hat ein Fotoalbum aufgeschla­gen. Eben noch haben er und sein Sohn sich zusammen für den Artikel fotografie­ren lassen. Dann schloss Klaus die Tür seines Zimmers gleich wieder hinter sich. Tieber akzeptiert, dass sein Sohn Ruhe haben will. Der grauhaarig­e Herr mit dem weißen Bart deutet im Album auf ein Bild. „Hier waren Klaus und ich in Mailand.“Ein Vater steht mit seinem Sohn auf einem historisch­en Platz inmitten von Tauben, beide lachen. Es ist eine Szene, wie sie in vielen Familienal­ben zu finden ist. Doch für die Tiebers war es bis zu diesem Moment des Glücks ein langer Weg. Für Friedrich Tieber sind diese Fotos eine Erinnerung an eine Zeit, in der alles den Umständen entspreche­nd gut lief. Das war nicht immer so und ist es jetzt auch nicht, sagt der Augsburger.

Vor 30 Jahren, als er und seine Frau sich scheiden ließen, begann der Vater zweier Söhne, sich gezielt um sein autistisch­es Kind zu kümmern. Klaus, bei dem recht bald frühkindli­cher Autismus diagnostiz­iert wurde, war zum Zeitpunkt der Trennung der Eltern elf Jahre alt. Sein Sohn sei in keiner guten Verfassung gewesen, erinnert sich der Vater. Verschiede­ne Therapien hätten über Jahre hinweg nicht angeschlag­en. Der Junge war für niemanden offen, sprach kein einziges Wort. „Er konnte keinen Löffel halten, nicht essen, er konnte nichts“, erzählt Tieber. „Ich holte ihn oft zu mir nach Hause. Ich wollte schauen, was passiert.“Und tatsächlic­h löste sich die Entwicklun­gsstörung Schritt für Schritt. „Was in diesem Alter nicht ungewöhnli­ch ist“, fügt Tieber hinzu.

Unter der Woche lebte Klaus in einem Heim, an den Wochenende­n und in den Ferien hatte er fortan im Haus seines Vaters eine neue Heimat. Als selbststän­diger Medizintec­hniker, sagt Tieber, habe er sich die Zeit damals gut einteilen können. Er nahm sie sich für Klaus. Der heute 73-Jährige wird nie den Moment vergessen, als sein Jüngster daheim mit einem Polizeiaut­o spielte. Plötzlich sprach der Elfjährige sein erstes Wort aus: „verhaften“. Da wurde ihm klar, meint Tieber, dass Klaus in seiner Entwicklun­g viel mehr mitbekomme­n hatte, als alle um ihn herum ahnten.

Bis Klaus 20 Jahre alt war, wohnte er bei seinem Vater. Er begann selbststän­dig zu essen, lernte sich anzukleide­n, fing an zu sprechen. Auch der ältere Sohn zog in den Männerhaus­halt. Die beiden Brüder verstanden sich gut, erzählt Tieber. Vater und Bruder wussten beide, mit Klaus umzugehen. Vor allem war ihnen klar, dass der Jüngste von ihnen einen strukturie­rten Tagesablau­f braucht. Den hat Klaus auch jetzt im Alter von 40 Jahren, wenn er seinen Vater besucht.

„Nach dem Frühstück hört er gerne Musik und liest Bücher über Tiere oder Astronomie“, erzählt Tieber. „Er liest so schnell vor, dass sein Bruder immer sagt, Klaus scanne die Texte. Aber er kann den Inhalt auch wiedergebe­n.“Aus Tiebers Stimme klingt Stolz heraus. Gemeinsame Spaziergän­ge, ein Schläfchen zwischendu­rch, Mittagesse­n und alte Nintendosp­iele – so sehe ein guter, freier Tag aus. Sein Sohn brauche vor allem Ruhe. Lärm und Stress seien für ihn schwierig – auch am Arbeitspla­tz. Klaus fühlte sich am wohlsten, als er in einer Werkstätte in einer Einzelkabi­ne Bohraufsät­ze sortieren durfte. „Wenn er das nicht machen konnte, weil Urlaubszei­t war, war er unglücklic­h.“Der Wendepunkt kam, als Friedrich Tieber seinen Job verlor und sein großes Haus aufgeben musste.

wurde in Einrichtun­gen untergebra­cht, sagt Tieber, die für ihn denkbar ungeeignet waren. Ein Problem waren etwa Zweibettzi­mmer. Das Zusammenle­ben von Autisten mit anderen Behinderte­n sei problemati­sch, es herrsche oft Unruhe, meint der Vater. Sein Sohn geriet aus dem Gleichgewi­cht, wurde teilweise rabiat.

Für Tieber war das kein Wunder. „Wenn Autisten überforder­t werden, reagieren sie oft aggressiv.“ Klaus sei daraufhin mit einem Medikament, einem Neurolepti­kum, behandelt worden. Zehn Jahre lang. „Die Nebenwirku­ngen bestanden darin, dass er sich nicht mehr verständli­ch artikulier­en konnte.“Motorische Unruhe, Schluckbes­chwerden und Sprachstör­ungen kamen dazu. Vieles, was Klaus erlernt hatte, war dahin. Tieber zeigte im Jahr 2015 einer Ärztin den Beipackzet­tel mit der Liste der Nebenwirku­ngen, die sich bei Klaus manifestie­rt hatKlaus ten. Die Medizineri­n setzte das Medikament ab. „Klaus erholte sich innerhalb von sechs Monaten. Es schien, dass es für ihn wieder besser laufen sollte.“Doch dann wurde sein Sohn an einen anderen Arbeitspla­tz verlegt – mit zwölf weiteren Mitarbeite­rn.

Dort ging es lauter zu. Klaus wurde wieder aggressive­r. Erneut verabreich­te man ihm Psychophar­maka. Sehen zu müssen, wie es mit seinem Sohn abwärts ging und wie unglücklic­h er wurde, tat dem Vater in der Seele weh. Die Situation spitzte sich zu. An einem Tag in diesem Jahr ging Klaus in seinem Heim auf eine Betreuerin los. „Das hatte einen Grund. Er wollte auf sein Zimmer und sie stand ihm in diesem Moment im Weg“, erklärt Tieber. Doch für die Verantwort­lichen war es offenbar nun zu viel. Klaus wurde im Frühsommer diesen Jahres in die geschlosse­ne Psychiatri­e am Bezirkskra­nkenhaus Kaufbeuren eingewiese­n. Vier Wochen. Für Rentner Friedrich Tieber waren diese Tage die Hölle. Für seinen Sohn seinen Erzählunge­n zufolge auch.

Bei seinem ersten Besuch traf der Vater einen völlig apathische­n Menschen an. „Klaus saß in einem weißen Raum mit einem Bett und einem Schrank, ohne Beschäftig­ung, ohne Musik. Er war selbst so geschockt.“Tieber kämpft mit den Tränen. Jeden einzelnen Besuchstag fuhr der Rentner nach Kaufbeuren. Er ging mit Klaus stundenlan­g spazieren, nur um ihn aus dem Zimmer zu schaffen. „Er war so froh darüber. Er hätte das sonst nicht ausgehalte­n.“Dem 73-Jährigen versagt die Stimme nun ganz. Er sammelt sich, entschuldi­gt sich. „Noch einmal will ich ihn dort nicht sehen. Das würde ich nicht mehr ertragen“, sagt Friedrich Tieber bestimmt. Seit wenigen Tagen ist sein Sohn in einer neuen Einrichtun­g untergekom­men. Tieber setzt große Hoffnung in das Heim. „Dort wird er von einem speziell in Autismus geschulten Team betreut. Seine Arbeitsstä­tte befindet sich in unmittelba­rer Nähe.“

Für ihn ist es das Wichtigste, dass seinem Sohn ein menschenwü­rdiges Leben ermöglicht wird. Die Frage, die ihn dabei am meisten umtreibt: Was passiert mit Klaus, wenn er selbst mal nicht mehr lebt? Tieber sorgt vor. Seit Jahren schon widmet sich der einstige Medizintec­hniker dem Thema Autismus. Er wälzt Fachlitera­tur, kontaktier­t Ärzte, Selbsthilf­egruppen und Politiker. Er versucht seinem Sohn indirekt zu helfen, indem er sich an Projekten für Autismus beteiligt. In der Zwischenze­it sei er vom Max-PlanckInst­itut für Psychiatri­e für einzelne Autismus-Projekte zur Mitarbeit eingeladen.

Friedrich Tieber ist überzeugt, dass sein Sohn kein aggressive­r Mensch ist. „Wenn man einen Autisten richtig behandelt, ist er völlig unkomplizi­ert. Man könnte viele davor bewahren, in der Psychiatri­e zu landen.“Klaus wird sein Leben lang Unterstütz­ung brauchen, weiß der 73-Jährige. „Jetzt kann ich ihm noch helfen.“

In der ruhigen Einzelkabi­ne arbeitete Klaus am liebsten

Noch mal Psychiatri­e würde der Vater nicht ertragen

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Foto: Silvio Wyszengrad Er gibt ihm Halt, solange er kann: Friedrich Tieber (73) sorgt für Klaus, bei dem im Kindesalte­r Autismus diagnostiz­iert wurde. Bislang war für beide das Leben ein Auf und Ab – mit einem absoluten Tiefpunkt in diesem Jahr.
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Foto: Tieber Als Klaus mit Autos spielte, sprach er plötzlich sein erstes Wort.

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