Augsburger Allgemeine (Land Nord)
„Die Antwort kann nur lauten: Weniger Plastik“
Titel Thema Der eine sieht bei seinen Reisen in Entwicklungsländer gigantische Müllberge, die ihren Ursprung oft in Europa haben. Für den anderen ist Abfall ein Geschäftsmodell. Ein Gespräch mit Entwicklungsminister Gerd Müller und dem Abfall-Lobbyisten P
Herr Müller, warum ist das Thema Plastikmüll ein Thema für den Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung?
Gerd Müller: Plastikmüll verschmutzt unsere Umwelt in einem unglaublichen Ausmaß. In wenigen Jahren befindet sich mehr Plastik in den Weltmeeren als Fische. Die Weltbank hat aktuell errechnet, dass wir bereits jedes Jahr Plastikmüll produzieren, der so schwer ist wie 3,4 Millionen Blauwale! Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass sich der Plastikmüll in den Meeren bis 2050 verzehnfachen wird. Das ist eine Hiobsbotschaft. Denn entlang der Küsten leben 800 Millionen Menschen nicht nur mit dem Meer, sondern auch vom Meer. Gerade die Menschen in den ärmsten Ländern sind auf den Fischfang angewiesen. Insofern ist der zunehmende Plastikmüll ein großes Problem, ökologisch wie sozial.
Wenn Sie in Afrika oder Asien unterwegs sind, haben Sie dort den Eindruck, dass diese Länder die Müllkippe der entwickelten Länder sind? Gerd Müller: Wir leben in einer „Externalisierungsgesellschaft“. Das heißt, wir holen uns die Ressourcen und Rohstoffe möglichst billig aus den Entwicklungsländern, bauen darauf unseren Wohlstand auf und liefern unsere gebrauchten Geräte zurück, viele davon als Schrott. Die Industrieländer machen nur 20 Prozent der Weltbevölkerung aus, verbrauchen aber 80 Prozent der Ressourcen und hinterlassen zwei Drittel der Umweltverschmutzung. Ich stand auf der größten Elektroschrott-Müllhalde Afrikas in Ghana. Da kommen Computer, Mikrowellenherde, Kühlschränke und andere Elektrogeräte auch aus Deutschland an, was eigentlich verboten ist. Auf dieser Müllhalde arbeiten tausende junge Menschen, die beim Zerlegen dieser Geräte ungeschützt giftige Dämpfe einatmen oder mit Säuren in Berührung kommen. Ich habe das vor zwei Jahren zum ersten Mal gesehen, es musste etwas geschehen. Bei meinem letzten Besuch vor drei Wochen haben wir eine neue Arbeitshalle eingeweiht, in der bis zu 10 000 junge Menschen in professionellem Recycling ausgebildet werden und einen Job finden.
Herr Kurth, was ist Plastikabfall für Sie – wertloser Müll oder ein wiederverwertbarer Rohstoff?
Peter Kurth: Richtig verstanden sind die Abfälle von heute die Ressourcen und Rohstoffe von morgen. Das gilt auch für Kunststoff. Aber was wir in Europa in weiten Teilen schon erreicht haben oder noch erreichen werden, ist in vielen Ländern der Welt noch Utopie. Dort stehen wir am Anfang und müssen konkret Umweltprobleme lösen. Die Plas- tikvermüllung der Meere ist ein Thema, das uns emotional stark berührt, weil die Vorstellung, dass Schildkröten, Fische oder Seevögel verhungern, weil ihr Magen mit Mikroplastik angefüllt ist, eine ziemlich grauenvolle ist.
Müller: Die Antwort kann nur lauten: weniger Plastik. Es muss weniger Plastik in Umlauf kommen und wir müssen das bereits genutzte Plastik viel stärker recyceln. Hier gibt es Projekte, die Mut machen. Mir wurde kürzlich ein Sportschuh eines namhaften Herstellers präsentiert, der ausschließlich aus recyceltem Plastikmüll aus dem Meer besteht. Das ist ein Marktrenner. Das zeigt, Müll ist Wertstoff.
Kurth: Voraussetzung ist allerdings, dass er vernünftig gesammelt und behandelt wird. Deswegen wollen wir als deutsche Entsorgungswirtschaft wahrscheinlich zusammen mit den Maltesern auf den Inseln der Philippinen ein gemeinsames Projekt starten. Die Philippinen stehen auf der Liste der Meeresverschmutzer an dritter Stelle, hinter China und Indonesien. Dort wollen wir mit örtlichen Kräften wie Schulen oder Kirchengemeinden zeigen, wie man damit umgeht.
Wenn Plastikabfälle tatsächlich einen Rohstoff darstellen, warum landet so viel Müll in den Weltmeeren?
Kurth: Viele Schwellenländer und Länder der sogenannten Dritten Welt haben ihr Konsumverhalten geändert. So ist zum Beispiel in Vietnam der Gebrauch von Wasserflaschen aus Plastik gang und gäbe. Gleichzeitig haben diese Länder keine Entsorgungsstrukturen, das heißt entweder kaum oder nur unzureichende Sammlung von Abfällen. Diese landen, wenn überhaupt, in unzureichend gesicherten Deponien, der Wind, der Regen oder spätestens der Monsun treiben den Dreck ins Meer. Deswegen müssen wir vor Ort die Abfälle, die problematisch sind, und dazu gehören Plastikabfälle, behandeln.
Wäre das ein Exportschlager für die deutsche Wirtschaft, in diesen Ländern Recycling-Betriebe aufzubauen? Kurth: Deutsche Recycling-Technik ist schon längst ein Exportschlager. Wir haben 25 Prozent des Weltmarktanteils. Aber hier geht es nicht um Hochtechnologie, sondern ganz schlicht um Presscontainer. Wir wollen aus den Kunststoffabfällen Ballen machen, die 600 bis 800 Kilogramm schwer sind und damit auch über ein paar Monate gelagert werden können, ohne dass sie vom Wind verweht werden, und besser transportiert werden können.
Müller: Das ändert aber nichts daran, dass erstens in Europa die Recycling-Quoten deutlich steigen müssen. Nach der aktuellen Weltbankstudie verantworten die Industrieländer mehr als ein Drittel des weltweiten Mülls, recyceln aber gerade mal 30 Prozent. Zweitens muss der Ausstieg aus „klassischem“Plastik hin zu wiederverwendbaren Verpackungsstoffen kommen. Und drittens muss die Industrie nicht immer neue Wohlstandsideen wie Kaffeekapseln erfinden. Allein in Deutschland verbrauchen wir mehrere Milliarden Kapseln im Jahr, wovon nur ein geringer Teil recycelt wird. Sie verursachen einen Müllberg von 6000 Tonnen. Durch die zusätzliche Aluminium- und Plastikproduktion wird so viel CO2 ausgestoßen wie von zehntausenden Pkw im Jahr. Genauso überflüssig ist das Mikroplastik, das in den letzten Jahren in Duschgel oder Haarshampoo beigemischt wurde. Dafür gibt es längst Ersatz aus biologisch abbaubarer Zellulose, trotzdem verschmutzen wir weiterhin das Wasser mit Kleinstpartikeln, ohne dass wir es bemerken.
Kurth: Das hat ja auch niemand so einkaufen wollen. Die Leute sind überrascht, wenn sie hören, dass sie auf diese Weise zur Plastikverschmutzung ihres Trinkwassers beitragen. Hier brauchen wir den Gesetzgeber, der diese Dinge verbietet oder stoppt. Einiges können der Markt und der Wettbewerb regeln, anderes nicht.
Die Recycling-Quoten werden erhöht. Bislang mussten 36 Prozent der Plastikabfälle wiederverwertet werden, bis 2022 soll der Anteil auf 63 Prozent ansteigen. Ist das realistisch? Kurth: Das ist zu schaffen. Wir sammeln und sortieren schon heute in einem erheblichen Umfang. Beim Sortieren sind wir längst über 70 Prozent. Erschwert wird aber die stoffliche Wiederverwertung bei den Kunststoffen, wenn sie entweder stark verschmutzt sind oder nicht sortenrein. Wenn mehrere Kunststoffarten verwendet werden, tun wir uns mit dem Recycling schwer. Technisch ist das möglich, aber aufwendig. Und man muss jemanden finden, der bereit ist, den höheren Preis für das aufbereitete Altplastik zu bezahlen. Das ist im Moment nicht der Fall. Wir als Entsorger können aus dem Material nur das herausholen, was auch drin ist.
Wer steht da in der Pflicht – die Politik oder die Hersteller?
Kurth: Beide. Es gibt eine Produzentenverantwortung, auch für die spätere Entsorgung. Immerhin, einige Player wie Rewe, Coca-Cola oder Aldi haben bereits erklärt, in einigen Jahren nur noch 100 Prozent recyclingfähige Materialien und nur noch Recycling-Kunststoff verwenden zu wollen. Da findet ein Umdenken statt. Das begrüßen wir, denn wir als Recycling-Wirtschaft sind in die Kunststoff-Produktion nicht eingebunden und haben keinen Einfluss darauf, was hergestellt wird. Wir brauchen Qualität in den RecyclingMaterialien und somit eine andere Art der Produktion. Das kann durch kluge Instrumente politischer Entscheidungen gefördert werden.
Müller: Das ist ganz entscheidend. Wir müssen in Kreisläufen denken – vom Anfang des Produkts bis zum Ende. Wo kommen die Ressourcen her? Wie produzieren wir nachhal- tig? Wie verringern wir den Ressourcenverbrauch? Und wie verwerten wir die Stoffe wieder? Wir haben in Deutschland langsam begriffen, dass Müll ein Wertstoff ist. Unser Ziel muss es jetzt sein, den Anteil wiederverwertbarer Stoffe ganz erheblich zu erhöhen und den nicht wiederverwertbaren Müll deutlich zu reduzieren – auch in Asien und den Entwicklungsländern. In Entwicklungsländern liegt die Recyclingquote bei nur vier Prozent, in Afrika wird sich die Müllmenge in den kommenden Jahren verdoppeln. Viele afrikanische Länder gehen hier bereits voran und haben Plastiktüten verboten: Ruanda, Uganda und Kenia. Weltweit sind das rund 40 Länder. 100 Millionen Tüten hatten allein Kenia pro Jahr vermüllt. Jetzt kommt weniger Plastik in Umlauf, das ist ein Anfang. In Deutschland verwenden wir im Übrigen noch 2,4 Milliarden Plastiktüten im Jahr.
Herr Müller, kann oder soll der Staat mit Steuern das Verhalten beeinflussen? Was halten Sie beispielsweise von der Einführung einer Plastiksteuer? Müller: Wir müssen die RecyclingQuote europaweit anheben. Die EUKommission hat hierzu eine Reihe von Vorschlägen eingebracht. Das begrüße ich. So sollen bis 2030 alle Kunststoffverpackungen recycelbar sein. Sollten diese Maßnahmen nicht zum Erfolg führen, dann sollten wir darüber nachdenken, wie wir für Unternehmen und Verbraucher recycelte Produkte günstiger machen.
Kurth: Die Pläne der EU, eine Strategie für eine Kreislaufwirtschaft zu entwickeln, unterstützen wir. Der von der EU favorisierte Grundsatz der Minimal-Content-Regelung ist viel besser als eine Plastiksteuer.
Was heißt das?
Kurth: Jeder Kunststoff-Hersteller wird verpflichtet, bei der Produktion einen bestimmten Prozentsatz an recyceltem Material zu verwenden. Genau damit bekommen wir eine Nachfrage nach Recycling-Rohstoffen. Das ist das, was heute noch fehlt, weil die Hersteller aus Kostengründen Altmaterial nicht verwenden. Wenn das greift, sind wir ein entscheidendes Stück weiter. Wir müssen jetzt aus hohen Sammelund Sortierquoten tatsächlich stoffliche Kreisläufe machen.
Müller: Genau das muss unser Ziel sein. Das betrifft nicht nur Plastik, sondern beispielsweise auch Handys. Es gibt mehr Handys als Menschen in Deutschland. In 100 Handys ist so viel Gold enthalten wie in einer Tonne Golderz. Ehe wir also neues Gold unter großen Umweltzerstörungen abbauen, sollten wir erst einmal diese wertvollen Ressourcen wiederverwenden. Herr Kurth, was erwartet die Entsorgungswirtschaft von der Politik? Kurth: Die Minimal-Content-Lösung wäre ein Durchbruch, sie kann aber nur auf europäischer Ebene kommen. Ein zweiter wichtiger Punkt ist der ganze Bereich der öffentlichen Beschaffung. Die öffentliche Hand, die für ein Beschaffungsvolumen von 1,5 Billionen Euro in Europa steht, hat den gesetzlichen Auftrag, nicht den billigsten, sondern den besten Anbieter zu nehmen. Dabei können und müssen sogar ökologische Kriterien wie Energieverbrauch oder Recycling-Fähigkeit berücksichtigt werden. Wenn die öffentliche Hand ihre Beschaffung konsequenter danach ausrichten würde, würde dies das Marktverhalten ändern. Denn es wäre plötzlich eine gewaltige Nachfrage vorhanden.
Achtet die Politik bei ihrer Beschaffung in ausreichendem Maß auf diese Kriterien?
Müller: Wir haben klare Regeln für eine nachhaltige Beschaffung verabschiedet. Die öffentliche Hand ist in Deutschland der größte Nachfrager am Markt mit einem Beschaffungsvolumen von rund 350 Milliarden Euro im Jahr – das sind Krankenhäuser, Kitas, Schulen, Feuerwehren, Behörden, Ministerien, die Bundeswehr. Hier kann die öffentliche Hand noch viel stärker ein Vorbild sein. Ich denke da auch an Textilien. Krankenhäuser könnten beispielsweise sofort auf faire Bettwäsche und Arztkittel umstellen. Oder bei der IT – schon längst gibt es Computer und Monitore, die anspruchsvolle Kriterien zum Mindestlohn der Arbeiter in den Elektronikfabriken oder zur Energieeffizienz einhalten. In meinem Ministerium achten wir darauf, und ich hoffe, dass viele andere noch folgen. Wir haben es uns jedenfalls zum Ziel gesetzt, dass das Entwicklungsministerium in den nächsten Jahren zum ersten klimaneutralen Ministerium der Bundesregierung wird.
„Mikroplastik, das in den letzten Jahren in Duschgel und Haarshampoo gemischt wurde, ist überflüssig.“
„Wir müssen aus hohen Sammel und Sortierquoten tatsächlich stoffliche Kreisläufe machen.“
Das Gespräch führte Martin Ferber
● Gerd Müller, 63, ist seit 2013 Mi nister für wirtschaftliche Zusam menarbeit und Entwicklung. Der CSU Politiker aus Kempten mit Wurzeln im Kreis Günzburg startete seine Karriere im Europaparla ment, seit 1994 vertritt er als Abge ordneter den Wahlkreis Oberall gäu im Bundestag.
● Peter Kurth, 58, ist Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Entsorgungs , Wasser und Rohstoff wirtschaft (BDE). Der Jurist stammt aus Siegburg. Von 1999 bis 2001 war er Finanzsenator (CDU) in Berlin. (AZ)