Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Geburtstag
Sie ist 99 und will nicht 100 werden
Thea Wallner ist 99 Jahre alt. Hundert möchte sie aber nicht mehr unbedingt werden. In einem Gespräch, versucht sie zu erklären, warum. Es wurde eine unvergessliche Geschichtsstunde aus erster Hand.
Thea Wallner wurde 1919 als Theresa Wölfle auf einem landwirtschaftlichen Betrieb in der Jakober Vorstadt geboren. Sie hatte noch eine jüngere Schwester Elli. Als Theresa fünf Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter. Die Leiche der Mutter wird in Tücher gewickelt und in eine schwarze Kutsche getragen. Die Kutsche wird von zwei Pferden gezogen. Der Vater fährt mit. Theresa und ihre Schwester bleiben, ohne Trost, allein zurück. Die Wohnung sind zwei kleine Kammern im vierten Stock. Der Vater geht zur Arbeit. Im Haus übernachten Schlafgänger: fremde Menschen ohne Wohnung. Theresa ist fünf Jahre alt und muss sich um alles kümmern. Kohlen in den vierten Stock tragen, Plumpsklo reinigen, waschen, putzen, kochen. Sie kümmert sich auch um ihre kleine Schwester.
Das Leben zwischen den Kriegen ist hart, vor dem Zweiten Weltkrieg wird es an vielen Stellen erbarmungslos. Kurz vor Weihnachten verliert der Vater seine Arbeit. Er ist nicht in der NSDAP. Sie haben nichts zu essen. Nur Schmieröl ist im Haus. Theresa und Elli gehen in die Nachbarschaft, um Brot zu erbetteln. Thea Wallner kann nicht weitersprechen. Sie weint, als sie es erzählt. Einmal, der Vater ist wieder nicht zuhause, bricht ein Unwetter über Augsburg herein. Der Regen donnert auf das Dach, es blitzt und kracht, die Kinder haben Angst und schreien. Nachbarn finden zwei verwahrloste Kinder. Die Haare sind lang und verfilzt und sie haben Läuse. Theresa und Elli kommen ins katholische Waisenhaus. Mit zweihundert Kindern in einem Schlafsaal. Das sind unvorstellbare Zustände. Thea Wallners Erinnerungen bedrücken sie sehr. Sie weint wieder.
Mit zehn Jahren verliert sie ihre Zähne, wegen der schlechten Ernährung. Der Vater findet eine neue Frau, heiratet und holt seine Kinder aus dem Waisenhaus. Nun sind sie zu sechst. Die Stiefmutter hat zwei Kinder in die Ehe gebracht. „Was wollen wir mit der, noch ein Maul mehr zu stopfen“, sagt die Stiefmutter. Theresas Odyssee bei verschiedenen Dienstherren beginnt – gute und nicht so gute. In der Schule war Theresa bis jetzt noch keine Sekunde. Sie muss schwere Kessel tragen in der Gaststätte Rheingold in der Provinostraße. Dafür ist sie zu klein, zu schmächtig. Der Metzger Huber in Friedberg kümmert sich um sie. Dann verliert er seine Metzgerei, weil er etwas über die Partei gesagt hat. Theresa lernt jetzt lesen und schreiben. Sie ist eine gute Schülerin. Kann sich durchsetzen, ist intelligent und willensstark.
Sie kommt nach Bad Wörishofen, dann nach Stuttgart. Jetzt haben die Nazis das Kommando. Sie wird in die Nähe von Magdeburg zwangs- verpflichtet. Sie muss Granaten befüllen. Dann organisiert sie die Transporte der Granaten. Als Augsburg bombardiert wird, bittet sie den Major, nach Augsburg zu fahren. Sie holt ihre Schwester Elli zu sich. Noch sind die Russen weit weg. Ihre Vorgesetzten schätzen sie und ihre Forderungen werden erfüllt. Egal, wo sie arbeitet.
Sie lernt ihren Mann kennen. In einem Granatentransport werden die Hochzeitsgeschenke verpackt. Sie sitzt auf Granaten und ihren Geschenken Richtung Kaiserslautern. Die Russen sind jetzt fast da. Als Tiefflieger kommen, springen alle in Deckung. Die junge Frau wird im Transport vergessen. Sie bleibt auf den Granaten sitzen und hat Glück. Eine Tochter wird geboren. Die Ehe hält neun Jahre. 1954 zieht sie aus der Nähe Kaiserslauterns zurück nach Augsburg und heiratet erneut. Ihr zweiter Mann stirbt früh. In seiner Kindheit hatte er eine schwere Krankheit. Theresa Wallner wusste nichts davon. Niemand spricht über die eigene Vergangenheit, alle leben klaglos mit ihren Schicksalen.
Sie arbeitet bis zu ihrer Rente bei der MAN. Theresa Wallner ist zielstrebig, lässt sich nichts gefallen. Dafür war ihr Leben zu steinig. Wie zur Belohnung, bekam sie dafür ein langes Leben. Vor dreißig Jahren bezog sie ihr Appartement im Servatiusstift. Letzte Woche rief sie im Altenheim an, um sich einen Platz zu sichern. Sie möchte eigentlich nicht dort hin. „Was soll ich zwischen all den alten Leuten?“, sagt sie und lacht. Das Alleinsein macht ihr nichts aus. Darin ist sie geübt. Zwei Mal die Woche macht sie noch kleine Besorgungen. Wegen der Mühsal, die das Alter mit sich bringt, möchte sie aber keine hundert Jahre mehr werden. Ihr späteres, selbstbestimmtes Leben hat sie geprägt und wer solche Abhängigkeit in der Kindheit erfahren hat wie sie, möchte im Alter nicht wieder dorthin zurück.