Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Berliner Zettelwirtschaft
Mit seinem Blog „Notes of Berlin“gibt Joab Nist einen Einblick in die Seele der Hauptstadt
Zu Abertausenden hängen sie in Berlin an Litfaßsäulen, an Bäumen oder kleben an Straßenlaternen: Zettel, von Wohnungsgesuchen und Liebesbotschaften, bis hin zu Beschwerden über die Nachbarn. Manchmal sind sie lustig, wie: „Wellensittich entflogen. Farbe: egal“. Oder sie lassen den Leser verdutzt zurück wie die Nachricht: „Hallo Rawa, melde dich, du wirst Vater.“
Bei Passanten lösen sie ein kurzes Schmunzeln oder ein unverständliches Kopfschütteln aus. In Summe betrachtet sagen die Papiernotizen mehr aus, als auf den ersten Blick ersichtlich: Die Zettel sind Indikatoren für die Stimmung in Berlin. Sie zeichnen ein Bild vom Charakter der Hauptstadtbewohner. Und zugleich zeigen die Gesuche, wie sich die berlinerischen Probleme in den vergangenen Jahren verschoben haben: vom „Schwaben-Bashing“bis zur Gentrifizierung.
Joab Nist gibt einen Überblick über die Zettelwirtschaft in Berlin. Seit zwölf Jahren lebt der gebürtige Münchner in der Hauptstadt. Die Alpen hat der 35-Jährige gegen andere Berge getauscht: den Prenzlauer, Schöne- oder Kreuzberg. Auf seinem Streifzug durch die Kieze entdeckte er die unzähligen Zettel. Er fing an, sie abzufotografieren und stellt sie seit 2010 in seinen Blog „Notes of Berlin“(„Notizen aus Berlin“) ins Internet. Mittlerweile gehört der Blog zu einer der meistgelesenen in ganz Deutschland. Mehr als eine Millionen Menschen besuchen die Seite jeden Monat. In den Sozialen folgen knapp 380 000 Menschen den Blog. „Notes of Berlin“lebt nur von Nists ZettelSammlung. Täglich erreichen den Berliner viele Einsendungen – nicht nur aus der Hauptstadt.
Das papierene Medium gibt einen Einblick, wie Menschen verschiedener Nationen, unterschiedlichen Alters und diverser Lebensentwürfe zusammenleben. Die Zettel dienen der Kommunikation innerhalb der Kieze, aber auch innerhalb von Wohnhäusern: „Werte Nachbarn! Bitte entschuldigen Sie den nächtlichen Tumult. Ich habe mit einem gemeinen Weberknecht um mein Leben gerungen.“Humorvoll und kreativ seien die Berliner, weiß Nist. Sie können aber auch anders. Viele Nachrichten sind direkt, manchmal wütend. „An den Turnschuhdieb: Hoffentlich rennst du bald gegen eine Laterne und verlierst dabei zwei Schneidezähne.“In der Hauptstadt wird kaum ein Blatt vor dem Mund genommen.
Die Wut richtet sich in Berlin nicht nur gegen Diebe und Nachbarn. „Viele sind wütend über die Entwicklung der Stadt“, sagt Nist. Verdruss rufen vor allem zwei Tendenzen hervor: die zunehmende Vermüllung der Stadt und die steigenden Wohnpreise. Gerade in den vergangenen Jahren sei die Gentrifizierung an den vielen Wohnungsgesuchen abzulesen. „Ich suche eine Zwei-Raum-Wohnung hier im Haus oder in der Nähe. Bei erfolgreicher Vermittlung gibt’s Döner!“
Die Wohnungsnot hat von einem anderen Dauer-Aufreger abgelenkt: vom Schwaben, der den Prenzlauer Berg bevölkert. Gerade die hergezogenen Baden-Württemberger sind in Berlin mit Vorurteilen behaftet. Unter anderem, dass die Zugezogenen schuld an der Mietpreis-Explosion sind. In der Hauptstadt entwickelten sich die Schwaben zum Inbegriff von Spießbürgertum. Doch Zettel wie „Schwabe, geh nach Hause. Du hast hier nichts verloren“haben abgenommen. Mittlerweile richtet sich der Ärger über die zugezogenen Neu-Berliner aus Schweden, Dänemark oder den USA. „Man spürt, dass Berlin internationaler geworden ist“, sagt Blogger Nist und verweist auf viele englischsprachige Aushänge.
Doch egal, woher die Menschen kommen, die Hauptstadt zieht ein bestimmtes Klientel an. An der Zettelwirtschaft erkennt Nist: „Berlin zieht viele Menschen an, die auf der Suche nach etwas sind.“Sei es beruflich oder privat, die Suche nach Gleichgesinnten, nach der großen Liebe oder der Selbstverwirklichung. Die papierenen Gesuche sind ein Ausdruck nach der innerlichen Suche der Menschen, die die Zettel kleben, ist Nist überzeugt.
Die ausufernde Zettelwirtschaft in der Hauptstadt ist ein Hinweis, wie sich die Berliner den öffentlichen Raum aneignen. Das Ordnungsamt hat angesichts der Papierflut aufgegeben, die Zettel zu entfernen. „In Berlin schert sich keiner um Ordnungswidrigkeiten“, ist der 35-Jährige überzeugt. Daher bleibt die Hauptstadt das „Mekka der Zettelwirtschaft“, wie der Blogger sagt.
Ob der Blog in seiner Heimatstadt München funktionieren würde? Daran zweifelt Joab Nist. Dafür sei das Ordnungsamt zu fleißig und die Münchner Seele eine andere.
Wut auf die Schweden statt auf die Schwaben