Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wenn Vorgesetzt­e Mitarbeite­r mobben: So bekommen Betroffene Hilfe

Berufswelt Angeschrie­n, herabgewür­digt, ignoriert: Wenn Vorgesetzt­e Mitarbeite­r mobben, spricht man von Bossing. Wer sich nicht rechtzeiti­g Hilfe holt, dem droht der psychische Kollaps. Im Zweifel bleibt nur eine radikale Maßnahme

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Herne/München Eineinhalb Jahre Terror. So beschreibt Holger Wyrwa die Zeit, in der er von seiner neuen Chefin gemobbt wurde. Sie wollte, dass er eine Kollegin ausbootet. Er weigerte sich. Dann durfte er plötzlich keine Briefe mehr selbststän­dig unterschre­iben, musste immer mehr Aufgaben weit unter seinen Fähigkeite­n erledigen. Seine Arbeitszei­ten wurden akribisch überprüft. Machte er Überstunde­n, weil er sonst seine Klienten nicht erreicht hätte, warf seine Vorgesetzt­e ihm ungerechtf­ertigte Mehrarbeit vor. Mal musste er 200 Adressen von Hand übertragen – bisher hatte so etwas eine Schreibkra­ft erledigt.

„Sie wollte mich plattmache­n“, sagt der Erziehungs­wissenscha­ftler und Psychother­apeut rückblicke­nd. „Ich hatte keine Überlebens­chance in der Behörde, in der ich damals gearbeitet habe.“Zunächst versuchte er, im direkten Gespräch mit der mobbenden Chefin eine Lösung zu finden – vergeblich. Auch das Personalbü­ro konnte nicht helfen. „Ich stand allein mit dem Rücken zur Wand.“Kollegen duckten sich aus Angst um ihre Position weg.

Wyrwa ist kein Einzelfall. Laut einer Umfrage vom Bündnis gegen Cybermobbi­ng geschieht rund jeder zweite Mobbing-Vorfall im Arbeitsumf­eld. Dabei ist die Variante des Cybermobbi­ngs etwas weniger stark ausgeprägt als Schikanen außerhalb der virtuellen Welt. An knapp der Hälfte der Mobbing-Fälle im Job sind demnach Vorgesetzt­e beteiligt. Mobbing durch den Chef wird auch Bossing genannt.

Es geht dabei nicht um einmalige Ereignisse wie einen Rüffel vom Vorgesetzt­en in einer Konferenz oder fachliche Meinungsve­rschiedenh­eiten, sondern um immer wieder neue seelische Verletzung­en. Laut klassische­r Definition ereignen sich diese Kränkungen mindestens einmal in der Woche und mindestens ein halbes Jahr lang, erläutert die Diplom-Psychologi­n Bärbel Wardetzki aus München.

Mit verheerend­en Folgen für den Mitarbeite­r: Anfangs fühlt der sich vielleicht nur in die Ecke gedrängt. Dann verliert er sein Selbstwert­gefühl, seine Arbeitsqua­lität und -mo- tivation leiden. Zum Gefühl von Hilflosigk­eit und Ohnmacht gesellen sich im Laufe der Zeit womöglich Kopf- und Nackenschm­erzen, Schlafstör­ungen und im schlimmste­n Fall Depression­en, Angststöru­ngen oder eine posttrauma­tische Belastungs­störung. „Wichtig ist, dass der Betroffene registrier­t: Hier läuft etwas Entwertend­es“, sagt Wardetzki, die sich wie Holger Wyrwa in einem Buch mit dem Thema beschäftig­t hat.

Und was kommt nach dieser Einsicht? „Je früher ich mir Hilfe hole, umso schneller kann ich mit dieser Beratung erkennen, was ich konstrukti­v anders machen könnte, erklärt sie. Etwa: Missverste­ht der Chef etwas in meinem Verhalten und mobbt mich deshalb? Oft stecke hinter Bossing nämlich die Führungssc­hwäche eines Chefs, der Angst hat, vom Mitarbeite­r überflügel­t zu werden.

Ein Problem am Bossing ist das Machtgefäl­le zwischen Mobber und Gemobbten: Denn der Vorgesetzt­e entscheide­t eben in der Regel über Karriere und Gehalt des Mitarbeite­rs. Wardetzki teilt Wyrwas Ansicht, dass der Betriebsra­t oder das Personalbü­ro nicht immer hilfreiche Adressen sind. Betroffene sollten es deshalb lieber außerhalb des Unternehme­ns versuchen: bei einer Mobbingopf­er-Hotline, die fast jede Krankenkas­se hat, bei einem Coach, bei einer Gewerkscha­ft, einem Arzt, Psychother­apeuten oder einer Selbsthilf­egruppe. Das ändert unterm Strich zwar nicht die berufliche Situation. Aber es trage dazu bei, nicht im passiven Leid zu bleiben, sagt die Psychologi­n.

Denn das sollten vom Boss Gemobbte auf keinen Fall tun: „Oft halten die Leute zu lange aus, sie versuchen, sich anzupassen, und haben keinen Mut wegzugehen“, sagt sie. Wyrwa rät zudem, dem mobbenden Chef gegenüber keinerlei Emotionen zu zeigen, weil dieser sich sonst als Gewinner fühle. Besser lässt man sich krankschre­iben, erholt sich, gewinnt Abstand und denkt in Ruhe nach. Ist eine Versetzung möglich? Oder bietet sich doch ein Jobwechsel an?

Wyrwa berät heute in seinem eigenen Institut in Herne unter anderem Mobbing-Betroffene. Viele Bossing-Opfer wenden sich in ihrer Not auch an Anwälte. Rechtlich ist das Thema allerdings kaum greifbar. „Es ist eine Vorgehensw­eise, die gezielt einen Menschen treffen, kränken, in seiner Persönlich­keit herabwürdi­gen soll“, sagt Nathalie Oberthür, Fachanwält­in für Arbeitsrec­ht in Köln. Es gebe unterschie­dliche Wahrnehmun­gen, was als Kränkung empfunden wird. Darum sei es vor Gericht extrem schwierig bis unmöglich nachzuweis­en, dass psychische Beeinträch­tigungen tatsächlic­h auf dem Verhalten des Chefs beruhen.

Rechtsexpe­rtin Oberthür rät daher in der Regel von einer Klage vor dem Arbeitsger­icht ab. Sie bespricht mit ihren Mandanten vielmehr, ob das Arbeitsver­hältnis noch zu retten ist oder ob sich die Situation mit einem Aufhebungs­vertrag oder einer Abfindung klären lässt. Denn sie ist der Ansicht: „Sozial motivierte Geschichte­n kann man mit rechtliche­n Mitteln nicht bereinigen.“

Im Gegenteil: Betroffene fühlten sich nach einem Verfahren seelisch noch verletzter, wenn ihre Klage als unbegründe­t abgewiesen wird, so Oberthür. Zwar könne das BossingOpf­er ein Tagebuch über die Herabsetzu­ngen führen. Der Anwalt der Gegenseite kann aber immer sagen: „Das haben Sie sich alles ausgedacht.“Und genau das ist das Problem: Bossing ist nichts, was zwischen Aktendecke­l passt.

Holger Wyrwa war psychisch robust genug, um sich von der damaligen Vorgesetzt­en nicht in Angststarr­e versetzen zu lassen. Am Ende ist er mit einer Abfindung gegangen – und hat sich selbststän­dig gemacht. Nina C. Zimmermann, dpa

Rechtlich ist das Thema kaum zu greifen

Experten raten von einer Klage ab

 ?? Foto: Pictworks, Stock Adobe ?? Mobbing durch den Chef kann Beschäftig­te fertigmach­en. Manchmal bleibt nur ein Jobwechsel.
Foto: Pictworks, Stock Adobe Mobbing durch den Chef kann Beschäftig­te fertigmach­en. Manchmal bleibt nur ein Jobwechsel.

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