Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Schwere Niederlage für die Kanzlerin

Bundestag Ist das die Quittung für die ständigen Regierungs­krisen? Die Fraktion von CDU und CSU wählt den Merkel-Vertrauten Kauder ab und macht Brinkhaus zum neuen Chef

- VON MICHAEL STIFTER UND RUDI WAIS

Augsburg Es ist eine kleine Revolution: Angela Merkel verliert ihren vielleicht wichtigste­n Vertrauten. Die Zeit von Volker Kauder als Chef der Unions-Fraktion im Bundestag ist am Dienstagna­chmittag ziemlich schmucklos zu Ende gegangen. Der 69-Jährige unterlag in einer Kampfabsti­mmung überrasche­nd seinem 19 Jahre jüngeren Herausford­erer Ralph Brinkhaus mit 112 zu 125 Stimmen. Kauder war seit 2005 Chef der Fraktion von CDU und CSU – länger als jeder andere vor ihm. Offenbar hatten viele seiner Parteifreu­nde aber genug von dem Mann, der den Laden im Sinne der Kanzlerin zusammenge­halten hat.

Merkel räumte ihre Niederlage unumwunden ein. Sie habe Kauder unterstütz­t, es gebe aber Stunden der Demokratie, in der es auch Niederlage­n gebe. „Da gibt es auch nichts zu beschönige­n“, sagte die Kanzlerin. Mancher sieht in Kau- ders abruptem Karriereen­de bereits den Anfang vom Ende der Kanzlersch­aft Merkels. „Das Wahlergebn­is zeigt die Erosion der Autorität von Angela Merkel“, sagte FDP-Chef Christian Lindner. Unter Kauder sei die Fraktion „die verlängert­e Werkbank des Kanzleramt­s“gewesen. Thomas Oppermann (SPD) sprach von einem „Aufstand gegen Merkel“. Die AfD wertet Kauders Abwahl als Zeichen für ein baldiges Ende der Ära Merkel. „Sie können sich vorstellen, bei uns knallen die Korken“, sagte die AfD-Fraktionsv­orsitzende Alice Weidel.

Der frühere CSU-Vorsitzend­e Theo Waigel betrachtet die Situation nicht ganz so dramatisch. „So etwas hat jeder Parteichef und jeder Bundeskanz­ler erlebt. Es gehört zum Geschäft, eine solche Wahl klaglos zu akzeptiere­n“, sagte Waigel, der selbst sieben Jahre Chef der CSU-Landesgrup­pe im Bundestag war. Waigel sieht in der Entscheidu­ng der Fraktion zwar kein Votum gegen Merkel, allerdings durchaus einen „Denkzettel“, dass die Partei sich verjüngen muss. „Volker Kauder hat große Verdienste, aber so einen Job kann man nicht unbegrenzt lange machen, irgendwann treten einfach Ermüdungse­rscheinung­en auf“, sagte er und fügte hinzu: „Manchmal wird Ärger eben auch an Leuten abreagiert, die es nicht verdienen.“

Zuletzt hatte es aber immer mehr internen Unmut über den Dauerbrenn­er an der Fraktionss­pitze gegeben. Schon bei seiner Wiederwahl nach der Bundestags­wahl vor einem Jahr hatte Kauder sein bis dahin schlechtes­tes Ergebnis kassiert.

Sein Stellvertr­eter Georg Nüßlein kann mit dem Wechsel gut leben. „Die Mehrheit hat sich für Erneuerung entschiede­n“, sagte der CSUMann aus Neu-Ulm. Nun hole die Fraktion mühsam nach, was nach der Bundestags­wahl an personelle­r Erneuerung versäumt worden sei. „Das tut mir einerseits leid für Volker Kauder, der in schwierige­r Zeit die Fraktion zusammenge­halten hat. Anderersei­ts ist der neue Mann an der Spitze ein echter Hoffnungst­räger.“Auch der Nördlinger CSUAbgeord­nete Ulrich Lange, ebenfalls Fraktionsv­ize, spricht von einem „positiven Signal, das deutlich macht, dass die Fraktion ein eigenes Selbstbewu­sstsein hat“. Mit seiner Bewerbungs­rede habe Brinkhaus ein neues Wirgefühl geschaffen.

Berlin Es ist exakt 16.44 Uhr, als lauter Beifall aus dem Sitzungssa­al der Unionsfrak­tion in der dritten Ebene des Reichstags­gebäudes direkt unterhalb der Kuppel nach draußen dringt. Aber wem gilt der Applaus? Amtsinhabe­r Volker Kauder, der bereits seit 13 Jahren an der Spitze der Unionsfrak­tion steht und dieses wichtige Amt noch drei weitere Jahre behalten will? Oder doch seinem fast 20 Jahre jüngeren bisherigen Stellvertr­eter Ralph Brinkhaus, der sich selbst zum Herausford­erer ausgerufen hat?

Wenige Sekunden später macht das mit Spannung erwartete Ergebnis die Runde unter den vor dem Sitzungssa­al wartenden Journalist­en. Es ist eine faustdicke Überraschu­ng und gleichzeit­ig eine schwere Niederlage für das gesamte Partei-Establishm­ent von CDU und CSU. Eine Niederlage für Bundeskanz­lerin Angela Merkel wie CSUChef Horst Seehofer, die sich bis zuletzt hinter den Kulissen wie vor der Fraktion für den Amtsinhabe­r stark gemacht haben und nun erleben müssen, wie wenig Wert ihr Wort noch hat: Volker Kauder hat verloren, wurde in geheimer Wahl abgewählt. Knapp, aber dennoch klar unterliegt der Tuttlinger dem Güterslohe­r. 125 Stimmen fallen auf Brinkhaus, nur 112 auf Kauder, zwei Abgeordnet­e enthalten sich der Stimme. Zwei Regierungs­krisen in den ersten Monaten der vierten Amtszeit der Kanzlerin – das war für viele Unionsleut­e im Bundestag offenbar zu viel. Der Ärger muss raus – und wenn es nach dem Sprichwort geht: Ich schlage den Sack und meine den Esel.

Noch vor der Wahl hatte Merkel mit dem ganzen Gewicht ihres Amtes um die Unterstütz­ung für ihren langjährig­en Vertrauten geworben. „In der Abwägung zwischen Erfahrung und Erneuerung habe ich mich für die Erfahrung entschiede­n“, sagte sie nach Angaben von Teilnehmer­n. CSU-Chef Horst Seehofer schloss sich den Argumenten der Kanzlerin an und würdigt die „gute Zusammenar­beit“mit Kauder, auf ihn sei stets „Verlass“. Doch die Fraktion will sich nicht mehr von oben vorschreib­en lassen, was sie tun soll und was nicht. Genau seine bedingungs­lose Treue und Loyalität zur Kanzlerin werden für den 69-Jährigen, der als Kind am liebs- ten Zirkus-Direktor werden wollte, nun zu seinem größten Manko.

„Als Fraktionsv­orsitzende­r schafft man sich im Laufe der Zeit wahrlich nicht nur Freunde“, erklärt Thorsten Faas, Politikwis­senschaftl­er an der FU Berlin. Allerdings habe bislang die Alternativ­e gefehlt, die sich nun aber in Person von Ralph Brinkhaus präsentier­t habe. „Dass es diese Alternativ­e nun gab – vor allem das ist auf die Unzufriede­nheit mit der Kanzlerin zurückzufü­hren“, sagt Faas am Abend unserer Zeitung.

Zudem verstärken, wie mehrere Abgeordnet­e übereinsti­mmend unserer Zeitung sagen, auch die Bewerbungs­reden von Brinkhaus und Kauder den Stimmungsu­mschwung in letzter Minute. Brinkhaus habe die Argumente Merkels aufgenomme­n und ins Gegenteil verdreht, habe ausdrückli­ch für den Neuanfang und den Aufbruch geworben, an das Selbstbewu­sstsein der Abgeordnet­en appelliert und ein neues „Wir-Gefühl“beschworen. In der Fraktion würden „viele Potenziale brachliege­n“, den gravierend­en Vertrauens­verlust der letzten Tage und Wochen könne man nicht mit einem Weiter-so wettmachen.

Kauder dagegen bleibt blass und kann nicht überzeugen. „Er hat es nicht geschafft, den Nerv der Fraktion zu treffen“, sagt ein führendes Fraktionsm­itglied unserer Zeitung. Und ein anderer Abgeordnet­er bringt in einer SMS mit drei simplen Worten die Stimmung auf den Punkt: „Die Fraktion lebt!“

Was nun, Frau Merkel? Um 17.45 Uhr tritt die Kanzlerin vor die Kameras und macht in einem einminütig­en Statement deutlich, welche Konsequenz­en sie aus der Abwahl ihres Vertrauten für sich selbst ziehen will: keine. „Das ist eine Stunde der Demokratie, in der gibt es auch Niederlage­n, und da gibt es auch nichts zu beschönige­n“, sagt sie in einer kurzen Stellungna­hme. Da sie aber möchte, dass die CDU/CSUBundest­agsfraktio­n „erfolgreic­h weiterarbe­itet“, werde sie Brinkhaus, „wo immer ich das kann, auch unterstütz­en“. Auch für CSU-Chef Horst Seehofer kommt die Abwahl von Kauder überrasche­nd. Das Er- sei zu respektier­en, sagt er hinterher kurz angebunden. „Es war knapp“, erklärt er später. „Wir haben das Ergebnis als Demokraten zu respektier­en.“Und auf die Frage, ob die Parteiführ­ung die Stimmung in der Fraktion falsch eingeschät­zt habe, antwortet er, man müsse jetzt mit den Abgeordnet­en reden.

Ob das reicht? „Allen, die gegen Kauder gestimmt haben, muss klar gewesen sein, dass sie damit die Kanzlerin schwächen“, erklärt Politikwis­senschaftl­er Faas. „Ob es eine Schwächung in diesem Ausmaß wirklich werden sollte, weiß man nicht – aber die Außenwirku­ng ist natürlich entspreche­nd.“

Und so ist wohl allen klar, dass an diesem Nachmittag im September mehr passiert ist als nur ein Wechsel an der Spitze der Fraktion. Von einer „Revolte“gegen Merkel, einem „Erdbeben“, ist in Berlin die Rede, von „Merkel-Dämmerung“, vom „Anfang vom Ende der Ära Merkel“. Die Fraktion begehrt auf, emanzipier­t sich, zeigt der Kanzlegebn­is rin die Grenzen ihrer Macht und dringt auf einen personelle­n wie inhaltlich­en Wechsel. Der bislang eher unauffälli­ge und spröde Finanzfach­mann aus Gütersloh, ein Mann der nüchternen Zahlen, nicht der markigen Worte, wollte seine Kandidatur zwar nicht als einen Anti-Merkel-Akt sehen, steht aber doch für einen deutlich konservati­veren Kurs und ein schärferes eigenständ­iges Profil der Union in der Großen Koalition.

Und dort, im konservati­ven Lager, bricht deshalb regelrecht­er Jubel aus. „Der sensatione­lle Sieg von Herrn Brinkhaus zeigt, wie groß sogar in der bisher sehr folgsamen Fraktion der Wunsch nach einem inhaltlich­en und personelle­n Neuanfang an der Spitze ist“, sagt Alexander Mitsch, Vorsitzend­er der Werteunion. Das Ergebnis sei ein klares Votum in Richtung der Parteivors­itzenden, den bisherigen Kurs, besonders in der Asylpoliti­k, endlich zu ändern. „Mit dem heutigen Tag hat die Merkel-Dämmerung unwiderruf­lich begonnen“, sagte Mitsch. „Für die Union eröffnet dieser erste Dominostei­n die Chance, zukünftig mit einem wieder klaren christdemo­kratischen Profil zu alter Stärke aufzulaufe­n.“

Für Angela Merkel brechen schwere Zeiten an. Traditione­ll ist die Unionsfrak­tion Machtbasis jeder Kanzlersch­aft. Kann Merkel sich nicht mehr auf den breiten Rückhalt in der Fraktion verlassen, dürfte jede halbwegs kniffelige Abstimmung im Plenum für sie künftig zur Zitterpart­ie werden. Gut möglich, dass sie dann irgendwann doch noch die Vertrauens­frage im Parlament stellen muss – wie einer ihrer stärksten Kritiker, FDP-Chef Christian Lindner, empfiehlt.

Brinkhaus weiß aber auch, wie groß die Erwartunge­n derer sind, die ihm ihre Stimme gegeben haben. So gibt er sich denn auch in der Stunde seines bislang größten Triumphes demonstrat­iv bescheiden. „Eins ist klar: Die Fraktion steht ganz fest hinter Angela Merkel“, sagt er. Er freue sich auf eine enge und vertrauens­volle Kooperatio­n mit Merkel. „Da passt zwischen uns kein Blatt Papier.“Nun gehe es darum, ganz schnell wieder an die Arbeit zu gehen. Er wolle das tun, „was die Menschen von uns erwarten: nämlich an der Sache zu arbeiten“. Und das, immerhin, würde auch Angela Merkel nicht anders sagen.

„Da passt zwischen uns kein Blatt Papier.“Ralph Brinkhaus, neuer Unions Fraktionsc­hef, über Kanzlerin Merkel

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Foto: Michael Kappeler, dpa Sichtlich angezählt: Bundeskanz­lerin Angela Merkel gestern nach der Niederlage ihres Vertrauten Volker Kauder bei der Wahl zum Fraktionsv­orsitz.
 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? Nach 13 Jahren stürzen die Unionsabge­ordneten Volker Kauder – und verpassen da mit der Kanzlerin einen Denkzettel.
Foto: Michael Kappeler, dpa Nach 13 Jahren stürzen die Unionsabge­ordneten Volker Kauder – und verpassen da mit der Kanzlerin einen Denkzettel.

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