Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„In Deutschlan­d werden Probleme moralisch statt sachlich diskutiert“

Interview Die Schweiz hat einen ganz besonderen Blick auf Deutschlan­d – sie ist uns so nah und doch so fern. Ein Gespräch mit dem über deutsche Eigenarten und warum er dem Einzug der AFD in die Parlamente auch etwas Positives abgewinnen kann NZ

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Herr Rasonyi, die Neue Zürcher Zeitung gehört zu den größten Kritikern der deutschen Politik. Was haben Sie eigentlich gegen Deutschlan­d?

Peter Rasonyi: Ich habe gar nichts gegen Deutschlan­d. Ich selbst habe viel Zeit in Deutschlan­d verbracht, die Beziehunge­n zwischen der Schweiz und Deutschlan­d sind ohnehin sehr eng. Aber wir sind eine liberale Tageszeitu­ng und blicken mit diesem Fokus auf jedes Land. In Deutschlan­d entdecken wir viele Themen, die wir nüchtern und sachlich analysiere­n. Dabei kommen wir zu Schlüssen, die vielleicht als kritisch wahrgenomm­en werden. Aber wir gehen mit der schweizeri­schen Politik genauso kritisch um. Peter Rasonyi: Die blickt auf die ganze Welt und dabei kommen wir zu Schlussfol­gerungen, die für Deutschlan­d andere sind als für die Schweiz, die internatio­nal ein Leichtgewi­cht ist und keine tragende Rolle hat. Weder in Europa noch weltweit. Das ist bei Deutschlan­d anders. Es spielt eine größere Rolle und muss mit dieser Rolle auch anders umgehen als etwa die Schweiz.

Peter Rasonyi: 2015 war im Nachhinein gesehen eine riesige Herausford­erung für ganz Europa. Da fehlte es klar an einer europäisch­en Führungsro­lle und einer einheitlic­hen Stimme, wie man damit umgehen muss. Als in Deutschlan­d Mitte 2015 einfach entschiede­n wurde, die Grenzen komplett zu öffnen, war das innenpolit­isch ein sehr schwierige­s Signal. Man spürt die Nachwehen noch immer. Peter Rasonyi: Sachlich gesehen nicht. Ich glaube, die Integratio­n dieser großen Zahl von Flüchtling­en ist zu bewältigen. Ich finde es sehr eindrückli­ch und bewunderns­wert, wie Deutschlan­d das schafft. Man schafft nicht alles, aber man schafft sehr vieles. Die Bereitscha­ft der Bevölkerun­g ist wirklich großartig. Aber gefühlt war 2015 vielleicht doch ein Schicksals­jahr, weil es zu großer Verunsiche­rung geführt hat. Wichtige Grundsätze der Politik wurden nicht mehr eingehalte­n. Der politische Diskurs ist bis heute durch die Flüchtling­skrise geprägt.

Dieser Diskurs wurde sehr stark moralisch aufgeladen. Ist das etwas typisch Deutsches?

Peter Rasonyi: Ich habe tatsächlic­h den Eindruck, dass in Deutschlan­d viele Probleme auf der moralische­n anstatt auf der sachlichen Ebene abgehandel­t werden. Und das ist nicht im- mer hilfreich. In der Flüchtling­skrise war dies sehr ausgeprägt. Konstrukti­ve Kritik wurde primär moralisch abgehandel­t und damit eigentlich verunmögli­cht. Das rächt sich nun. Daraus erwuchsen Vorwürfe wie die Meinungsfr­eiheit sei nicht mehr gegeben oder die Medien würden ihre Rolle nicht mehr richtig ausüben. Beiträge zur Debatte wurden tabuisiert durch diese sehr starke moralische Ausrichtun­g.

Peter Rasonyi: In der Schweiz laufen solche Diskurse anders, sehr viel stärker sachorient­iert, weil die Menschen durch die direkte Demokratie am Ende ja auch über Sachfragen abstimmen müssen. In Deutschlan­d scheint es mir doch sehr ausgeprägt, dass man stark auf der moralische­n Ebene über Probleme spricht.

Wie schafft es die Schweiz, die öffentlich­e Debatte weniger aufgeheizt zu führen?

Peter Rasonyi: Das Bewusstsei­n ist ein anderes, da die Bevölkerun­g der Souverän ist, der am Ende alle wichtigen Fragen entscheide­t. Dadurch ist die Politik gezwungen, die Bevölkerun­g ernst zu nehmen und die Probleme auf eine Art und Weise zugänglich zu machen, die es erlaubt, dass die Menschen ernsthaft entscheide­n können. Das führt zu einer anderen Qualität des Diskurses. Wir haben viel weniger eine Kluft zwischen und Bevölkerun­g.

Elite

Eine Journalist­in hat kürzlich geschriebe­n: In der Schweiz sind Wutreden ein Ventil, in Deutschlan­d sind sie ein Brandbesch­leuniger.

Peter Rasonyi: Das kann man so sehen. Der politische Diskurs in Deutschlan­d ist stärker abgekoppel­t von der Realität der meisten Bürger. Wenn man nur alle vier Jahre wählen kann, wird man dazwischen auch nicht mehr direkt angesproch­en. Dadurch können sich Machtkämpf­e viel stärker beschleuni­gen. Hier in der Schweiz ist die Politik zwangsläuf­ig viel näher am Alltagsleb­en. Weil es ja letztlich um Alltagspro­bleme geht und die Bevölkerun­g eingreifen kann. Peter Rasonyi: Das muss ja keine schlechte Entwicklun­g sein. Dieses Delegieren der Politik weit weg nach Berlin hat ja auch eine problemati­sche Seite. Zwar führt es gefühlt zu Stabilität und Geborgenhe­it. Aber letztendli­ch be- Politik aus einem Wettbewerb der Ideen. Und ein Wettbewerb darf durchaus intensiv geführt werden. Er soll zu einer Selektion der besten Ideen führen. Ich denke daher, dass es eine positive Entwicklun­g ist, dass in Deutschlan­d der politische Wettbewerb wieder intensiver ausgefocht­en wird.

Gehört zu diesem Wettbewerb der Ideen auch, dass eine Partei wie die AFD im Parlament ist?

Peter Rasonyi: Ich verstehe sehr gut, dass die Deutschen da empfindlic­h reagieren. Das ist auch gar nicht falsch. Aber ich denke, der Einzug der AFD in den Bundestag war folgericht­ig. Es gibt Anteile in der Bevölkerun­g, die sich von der AFD vertreten fühlen. Vor einem Jahr war auch noch weniger klar, wie sich die Partei ausrichten würde. Die AFD war ein breites Sammelsuri­um von Bewegungen. Später gab es Machtkämpf­e um die Führung. Inzwischen scheint sich die AFD immer weniger von radikalen Bewegungen im rechten politische­n Spektrum abzugrenze­n. Damit ist es eine offene Frage, welche Rolle die AFD in der Demokratie wirklich spielen wird. Bleibt sie eine demokratis­che Partei? Wird sie eine rechtsradi­kale Bewegung? Im Moment aber ist sie eine Bereicheru­ng des politische­n Spektrums. Peter Rasonyi: Die Schweizeri­sche Volksparte­i gibt es seit hundert Jahren, das ist ein wichtiger Unterschie­d zur AFD. In den letzten vielleicht etwa 30 Jahren hat sich die SVP deutlicher nationalko­nservativ ausgericht­et und ist damit zur stärksten Partei der Schweiz geworden. Was die Schweiz mit ihrem konsensori­entierten politische­n System erreicht hat, ist die Einbindung dieser nationalko­nservative­n Bewegung in den politische­n Alltagspro­zess. Das hat sehr viele Veränderun­gen gebracht. Wir haben im innenpolit­ischen Diskurs Themen stärker aufgegriff­en, die früher von den Parteien eher vernachläs­sigt wurden. Die SVP hat diese Dinge auf nicht immer schöne Art und Weise thematisie­rt. Aber sie hat die Politik bürgernähe­r gemacht, weil sie gezwungen war, Themen aufzugreif­en, die man lieber ausgegrenz­t hätte. Gleichzeit­ig wurde die SVP durch die Integratio­n in die Regierungs­verantwort­ung auf allen Ebenen auch von einer weiteren Radikalisi­erung abgehalten.

Ist Bundeskanz­lerin Angela Merkel zu schwach, um Deutschlan­d durch diese Zeit der Umbrüche zu führen?

Peter Rasonyi: Ich denke, die ganze Große Koalition ist eine Notlösung und damit ein schwaches Produkt. Nicht nur, weil man keine Ideen hätte, sondern weil man gar kein gemeinsame­s Projekt möchte.

Sie waren mehrere Jahre Korrespond­ent in Berlin. Wie haben Sie das Land damals erlebt?

Peter Rasonyi: Es war eine fasziniere­nde Zeit. Ein prägender Eindruck für mich war, dass Berlin nicht Deutschlan­d ist und Deutschlan­d nicht Berlin. Man verliert schnell den Fokus auf das ganze Land, wenn man sich in dieser Berliner Blase bewegt. Deutschlan­d habe ich erlebt als ein sehr vielfältig­es Land mit großen regionalen und kulturelle­n Unterschie­den.

Gab es etwas, das Sie an Deutschlan­d überrascht hat?

Peter Rasonyi: Ich glaube, das waren tatsächlic­h diese großen Unterschie­de. Ich kenne Süddeutsch­land recht gut und habe dann erstaunt festgestel­lt, dass Nord und Süd doch recht unterschie­dlich sind, sowohl von der Kultur als auch von der Mentalität und der Geografie. Das hat mich am Anfang überwältig­t. Peter Rasonyi: Ich bin mir nicht sicher, ob die Stimmung von damals wirklich weg ist. Zumindest im internatio­nalen Kontext hat Deutschlan­d immer noch sehr viel Sympathie, da hat man das Sommermärc­hen nicht vergessen. Ich glaube aber ohnehin, dass dieses Erstaunen damals, dass Deutschlan­d als sympathisc­h und sonnig wahrgenomm­en wird, eher bei den Deutschen selbst herrschte als im Ausland. Ich glaube nicht, dass viele Menschen im Ausland dachten, ich geh jetzt mal ins Land der Barbaren oder der Nazis. Diese Selbstwahr­nehmung war eine deutsche.

Ist es eine deutsche Eigenheit, sich stark mit sich selbst zu beschäftig­en – manchmal vielleicht sogar bis zur Besessenhe­it?

Peter Rasonyi: Ja, genau. Dazu gehört auch, sich selbst kritischer zu sehen als man von außen gesehen wird.

In der Schweiz ist das anders?

Peter Rasonyi: Die Schweiz ist sich als kleines Land und als offene Volkswirts­chaft sehr stark bewusst, wie wichtig das Ausland für die Schweiz ist. Das war schon immer so und ist eine große Stärke der Schweiz. Das liegt nicht daran, dass die Schweizer das Ausland so sehr lieben, sie wissen, dass sie abhängig sind. Die Schweiz hat eine sehr, sehr hohe Einwanderu­ng – übrigens gemessen an der Bevölkerun­gsgröße viel höher als Deutschlan­d. Das ist für die Schweiz gut zu tragen und zu ertragen, weil das Land mit der riesigen Kontinuitä­t seisteht ner Geschichte, diesem Mythos von 7 Eidgenosse­nschaft, auch sehr selbstbe Wir ruhen in uns selbst und können u sehr viele ausländisc­he Einflüsse leis bringt uns nicht aus dem Gleichgewi­c Peter Rasonyi: Ich glaube, das ist ein s tiger Unterschie­d. Man sieht das au man nach England schaut. Die Briten sich in einer ähnlichen Position Schweiz: Sie blicken auch auf eine ung ne Geschichte zurück, auf die sie s können. Sie waren immer auf der rich te der Geschichte, genau wie die Schw mitunter einfach auch Glück beigetr Das macht es viel leichter, in seiner Identität zu ruhen. Deutschlan­d hat gewaltigen Zivilisati­onsbruch. Aber ic dass die Bedeutung dieses Bruchs lan nehmen sollte. Es gibt in Deutschlan­d le Gründe, selbstbewu­sst und zufri sich selbst zu blicken, natürlich ohne verdrängen oder gar zu negieren.

Wollen die Deutschen zu sehr gemocht w

Peter Rasonyi: Ja, das ist wahrschein­li die Folge dieser Geschichte. Dass man chert ist und immer darauf achtet, w deren denken. Der Unterschie­d ist markant. Als ausländisc­her Journa man zum Beispiel in Berlin ganz stark nommen, man darf sich im Bundesta wegen, an allen Pressekonf­erenzen d rung teilnehmen. Das liegt auch dara nicht egal ist, wie die Welt über De denkt. Das ist in Paris oder London ebenfalls als Korrespond­ent gearbei ganz anders. Und warum interessie­rt niemanden? Weil die Regierunge­n ü sind, dass die Wahrnehmun­g im Ausla hin positiv ist.

Gibt es für Sie noch eine Unterschei­dung Ost- und Westdeutsc­hland?

Peter Rasonyi: Ja, die gibt es. Die In von beiden Teilen zu einem gesamten nicht abgeschlos­sen, das ist eine Frage nerationen. Die Integratio­n hat vor Beginn darunter gelitten, dass man d schiede zwischen Ost und West nicht ben wollte und dachte, alle sind gle war zu wenig bereit, sich mit Unte auseinande­rzusetzen und diese auch z tieren.

Nicht nur die Politik hat an Vertrauen e auch die Medien sind starker Kritik aus

Peter Rasonyi: Viele deutsche Medie ten eher ähnlich. Das liegt sicher auc bus, die aus der eigenen Geschichte en

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