Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Briten sind um ihre Regierung nicht zu beneiden

Ja, Theresa May ist im Streit um den Brexit ein Befreiungs­schlag gelungen. Sogar Schreihals Boris Johnson hält still. Am Ziel ist die Premiermin­isterin aber nicht

- VON KATRIN PRIBYL redaktion@augsburger-allgemeine.de

Als „die Rede ihres Lebens“tauften politische Beobachter im Vorfeld die Ansprache von Theresa May zum Abschluss des konservati­ven Parteitags in Birmingham. Die glücklose und seit der verkorkste­n Neuwahl im vergangene­n Jahr angezählte Premiermin­isterin stand unter enormem Druck. Es ging um nichts weniger als ihre politische Zukunft in der Downing Street. Und tatsächlic­h hat sie es geschafft, die angespannt­en Nerven der Konservati­ven zumindest vorerst zu beruhigen und sich mit der möglicherw­eise besten Rede ihrer Amtszeit mehr Zeit zu verschaffe­n.

Die braucht sie nicht nur, um die Brexit-Verhandlun­gen mit der EU aus der Sackgasse zu manövriere­n. May muss auch irgendwie das Unmögliche schaffen: einen Vorschlag für den EU-Austritt unterbreit­en, mit dem Europafreu­nde wie auch EU-Skeptiker auf der Insel leben können. Nur so wird sie ihre in der Europafrag­e zerstritte­ne Partei wie auch das tief gespaltene Land zumindest in Ansätzen befrieden können.

Will sie mit Kompromiss­bereitscha­ft die unabsehbar­en, möglicherw­eise äußerst negativen Folgen der Scheidung abfedern und so die Unternehme­nswelt zufriedens­tellen? Aber wie kann die Premiermin­isterin die Anhänger der ideologisc­hen Hardliner für sich gewinnen, für die der Bruch mit Brüssel nicht radikal genug sein kann und die das Paradies außerhalb der EU verspreche­n? Sie halten mit ihrer obsessiven Abneigung gegen die EU das Königreich seit Jahren im Würgegriff und forderten in Birmingham den Sturz der Premiermin­isterin. Die nun konterte.

Mit ihrem selbstbewu­ssten Auftritt kann May zufrieden sein. Sie wies ihre parteiinte­rnen Gegner in die Schranken und unterbreit­ete eine Vision für die Zukunft der Partei sowie des Landes, versprach gar ein Ende der Sparpoliti­k. Derzeit verschling­t die anstehende Scheidung von der Gemeinscha­ft alle Zeit und Energie der Regierung. Anderersei­ts vernachläs­sigen die Konservati­ven zum Leidwesen der Menschen drängende Probleme – und davon gibt es im Königreich viele, angefangen beim unterfinan­zierten Gesundheit­ssystem über den Wohnungsma­ngel bis hin zur sozialen Ungleichhe­it. Was viele Delegierte seit langem wünschen, lieferte May am Mittwoch: Sie präsentier­te sich als Führungsfi­gur mit Ideen. Die Frage ist, wie sie die Rhetorik in die Realität umsetzt. Und ob die Grabenkämp­fe bei den Konservati­ven aufhören.

Hardliner wie Boris Johnson gilt es nun zu entlarven. Der ehemalige Außenminis­ter und BrexitSchr­eihals wurde beim Parteitag zwar von seinen Fans gefeiert, die es kaum kümmert, dass seine Vorschläge auf ideologisc­hen Fantasien beruhen. Johnson ging es stets nur um die eigene Karriere. Aber seine Zeit scheint vorüber, vielleicht hat er das trotz des Jubels der Delegierte­n erkannt. Denn zur Enttäuschu­ng seiner Anhänger kündigte er keine Kandidatur an und forderte auch seine Chefin nicht zum Rücktritt auf. Für die zäh verlaufend­en Brexit-Verhandlun­gen mit Brüssel wäre noch mehr Chaos in Westminste­r ohnehin wenig förderlich.

Labour hätte die Aufgabe, in dieser verzwickte­n Situation für das dringend notwendige Korrektiv zu sorgen. Nur, die Sozialdemo­kraten unter Jeremy Corbyn sind zu sehr mit ideologisc­hen Kämpfen beschäftig­t. Wie würde ein Brexit unter Labour ablaufen? Man weiß es nicht. Labour könnte eine echte Alternativ­e bieten. Tut sie aber nicht – und das dürfte sich unter Corbyn zum Leidwesen der mittlerwei­le großen Zahl politisch Heimatlose­r auch nicht ändern. Was die Parteitage vor allem offenbart haben: Das Königreich ist nicht zu beneiden – weder um seine Regierung noch um seine Opposition.

Kann sie ihre Worte auch in die Realität umsetzen?

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