Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Tag der Einheit in stürmischer Zeit
Angesichts des erstarkenden Rechtspopulismus mahnen Politiker, für die Demokratie einzutreten. Schäuble wünscht sich von den Deutschen aber auch mehr Gelassenheit
Berlin Der Tag der Deutschen Einheit beginnt stürmisch in Berlin. Ein Platzregen erfasst Frauen und Männer, die unterwegs zum Festakt in der Staatsoper sind. Heftige Böen knicken den großen Regenschirm eines elegant gekleideten Paares nach außen. Fast scheint es, als wolle das Wetter den Rednern das Stichwort geben: Es sind stürmische Zeiten, durch die Deutschland geht, 28 Jahre nach der Wiedervereinigung. Fremdenfeindlichkeit und Rechtspopulismus breiten sich aus, nicht nur, aber in besonderem Maße im Osten der Republik. Erst wenige Wochen ist es her, dass Bilder von rechtsextremer Hetze in Chemnitz und Köthen im ganzen Land für Entsetzen sorgten. Und wieder einmal die Frage aufwarfen, wo der Frust so vieler Menschen in den neuen Bundesländern seine Wurzeln hat.
Wolfgang Schäuble, einer der Architekten der Deutschen Einheit, der den Einigungsvertrag mit ausgehandelt hat, geht gleich zu Beginn seiner Festrede darauf ein. „Nicht nur die Jahre der Teilung, auch die Jahre der Vereinigung haben Spuren hinterlassen“, sagt der Bundestagspräsident. Jede Erfahrung habe ihren Wert, erinnert er daran, dass für viele Ostdeutsche die Wende mit Arbeitslosigkeit, Verlusten und Unsicherheit verbunden war. Ein Unbehagen, wie es viele Westdeutsche gegenüber den Auswirkungen der Globalisierung spürten, sei im Osten der Nachwendezeit weit verbreitet gewesen. Und wirke bis heute nach. Doch Abschottung sei nicht das richtige Rezept für die Zukunft. „Uns die Welt vom Halse halten, das können wir nicht“, sagt der CDU-Politiker. Niemand habe das Recht zu behaupten, er allein vertrete das Volk, sagte er angesichts des Erstarkens populistischer Kräfte.
Schäuble kritisiert die Aufgeregtheit der politischen Debatten der jüngsten Zeit und mahnt, dass nicht jedes Sachthema zu einer Frage der Werte stilisiert werden dürfe. „Wir brauchen mehr Gelassenheit.“Die Gestaltung des Festakts entspricht Schäubles Forderung durchaus: Nicht nur staatstragend geht es zu, in Einspielern werden Berliner Originale vorgestellt, Szenen einer bun- ten Stadt gezeigt. Und als die Stadtkapelle unter der Leitung von Daniel Barenboim den alten Gassenhauer „Berliner Luft“spielt, 1904 von Paul Lincke geschrieben, ist die Stimmung unter den zahlreichen Ehrengästen für einen Moment fast ausgelassen. Auch bei Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).
Doch insgesamt dominieren am Nationalfeiertag mahnende Töne. Am Rande des Festakts nennt Merkel die Deutsche Einheit einen noch unvollendeten Prozess, einen langen Weg, auf dem es gelte, einander zuzuhören, aufeinander zuzugehen und dabei nicht nachzulassen. Die Kanzlerin spricht von ihren persönlichen Erinnerungen in der Wendezeit, „an die friedliche Revolution, die auch ganz stark von den mutigen Menschen in der ehemaligen DDR ausging“. Auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) würdigt „die ungeheure Leistung der Ostdeutschen, die auf die Straße gingen“. Heute seien die Deutschen in Ost und West aufgerufen, sich gemeinsam dem Rechtspopulismus entgegenzustellen. „Es ist Zeit, offen und laut für unsere Grundwerte einzustehen“, sagt Müller. Begleitet wird der Tag der Deutschen Einheit von einer Reihe politischer Forderungen. So will ein Bündnis von Migrantenorganisationen erreichen, dass auch ein „Tag der deutschen Vielfalt“eingeführt wird. Und die Berliner CDU will den Platz um die Siegessäule, den „Großen Stern“, in Helmut-KohlPlatz umbenennen. Damit solle an den früheren Bundeskanzler erinnert werden, der als „Vater der Wiedervereinigung“gilt.
Berlin ist in diesem Jahr Ausrichter der zentralen Einheits-Feier. Rund um das Brandenburger Tor findet unter strengen Sicherheitsvorkehrungen ein großes Bürgerfest statt. Es gibt zahlreiche Konzerte, die Bundesländer präsentieren sich. Und am frühen Nachmittag bricht dann auch die Sonne durch die Wolken am Berliner Himmel. Immer mehr Besucher strömen auf die Feiermeile, auch wenn die ursprünglich erwartete Besucherzahl von rund einer Million nach zwischenzeitlichen Schätzungen der Polizei wohl nicht erreicht wird. Auch weil der Deutsche Wetterdienst eine Sturmwarnung herausgegeben hatte, bleiben viele lieber zu Hause.