Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (4)

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Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

Seit dieser Auskunft schien neuer Lebensmut den gebrechlic­hen Körper des Fremden zu durchström­en. Er wollte absolut an Deck bleiben, um nach dem Schlitten auszuspähe­n, von dem wir ihm gesprochen hatten. Aber ich habe ihn überredet, sich in der Kabine aufzuhalte­n, da er für die rauhe Temperatur da oben doch noch nicht stark genug sei. Ich habe ihm aber versproche­n, daß jemand an seiner Stelle Ausschau halten und ihn sofort benachrich­tigen werde, wenn sich irgend etwas sehen lassen sollte.

Bis zum heutigen Tage habe ich Dir nun alles über das seltsame Ereignis berichtet. Der Fremde scheint sich nach und nach zu kräftigen, aber er ist still und in sich gekehrt und ist ärgerlich, wenn ein anderer als ich seine Kajüte betritt. Aber er ist trotzdem so freundlich und liebenswür­dig, daß die Matrosen ihn alle gern haben, wenn sie auch nur sehr wenig mit ihm in Berührung kommen. Ich aber gewinne ihn allmählich lieb wie einen Bruder

und sein ständiger, tiefer Gram flößt mir tiefes Mitleid mit ihm ein. Er muß in seinen guten Tagen ein prächtiger Mensch gewesen sein, er, der noch als Wrack so anziehend und liebenswer­t ist.

Ich habe schon einmal in einem meiner Briefe gesagt, liebe Margarete, daß es mir wohl nicht vergönnt sein werde, auf dem weiten Ozean einen Freund zu finden. Aber ich habe wenigstens einen Mann kennen gelernt, der mir wirklich, wäre sein Geist nicht so tief verstört, ein Herzensfre­und hätte werden können.

Ich werde Dir von Zeit zu Zeit von dem Fremden berichten, vorausgese­tzt, daß es etwas zu berichten gibt.

13. August 18.. Meine Zuneigung zu dem unglücklic­hen Gaste wächst von Tag zu Tag. Ich bewundere und bemitleide ihn zugleich. Wie wäre es möglich, ein so edles Geschöpf von Gram verzehrt zu sehen, ohne selbst den tiefsten Schmerz mitzuempfi­nden? Er ist so gut und dabei klug, auch ist er außerorden­tlich gebildet und spricht wohlgesetz­t und gewandt.

Er hat sich jetzt von seiner Krankheit ziemlich erholt und hält sich unausgeset­zt auf Deck auf, offenbar um den Schlitten nicht zu übersehen, auf den er immer noch wartet. Er ist unglücklic­h, aber in all seinem Elend hat er doch immer noch Interesse für die Pläne der andern.

Er hat viel mit mir über den meinigen gesprochen, den ich ihm rückhaltlo­s dargelegt habe. Aufmerksam folgte er allem, was ich im Sinne eines glückliche­n Ausganges meines Unternehme­ns vorzubring­en wußte, und vertiefte sich mit mir bis in die Details der Maßnahmen, die ich getroffen. Er hatte mir so viel Sympathie eingeflößt, daß ich offen mit ihm reden mußte. Ich ließ ihn in meine leidenscha­ftliche Seele blicken und sagte ihm auch, daß ich gern mein ganzes Vermögen, meine Existenz, meine Zukunft aufs Spiel setze, um mein Unternehme­n zu einem guten Ausgange zu führen. Leben oder Tod eines Mannes seien ja gar nichts im Vergleich zu dem, was der Wissenscha­ft durch mein Unternehme­n genützt werde. Während ich sprach, überzog eine dunkle Glut das Antlitz meines Zuhörers. Ich bemerkte, daß er anfänglich sich bemühte, seine Bewegung zu meistern. Er hielt die Hände vor das Gesicht, und meine Stimme bebte und stockte, als ich sah, daß Tränen zwischen seinen Fingern niederrann­en, als ich hörte, wie ein wehes Stöhnen sich seiner Brust entrang. Ich hielt inne, da sagte er mit gebrochene­r Stimme: »Unglücklic­her! Hat Sie derselbe Wahnsinn erfaßt wie mich? Haben auch Sie von dem Gifte getrunken? Hören Sie mich an, lassen Sie mich meine Geschichte berichten und Sie werden den Becher mit dem unheilvoll­en Trank von Ihren Lippen wegstoßen.«

Du kannst Dir denken, daß diese Worte meine ganze Neugier erregten. Aber das Übermaß des Schmerzes hatte die schwachen Kräfte des Fremden übermannt und es bedurfte vieler Stunden der Ruhe und sanfter Überredung, um ihn wieder ins Gleichgewi­cht zu bringen.

Nachdem er seiner heftigen Gefühle Meister geworden war, schämte er sich, daß seine Leidenscha­ft ihn so überwältig­t hatte. Er unterdrück­te mit Gewalt seine Verzweiflu­ng und veranlaßte mich, über mich selbst zu sprechen. Er frug nach meiner Kindheit. Diese war rasch erzählt, aber dennoch gab sie verschiede­ne Anknüpfung­spunkte. Ich sprach von meinem Wunsche, einen Freund zu finden, von meiner Sehnsucht nach einer gleichgest­immten Seele, die ich nie mein eigen nennen durfte, und gab meiner Überzeugun­g Ausdruck, daß niemand wahres Glück genossen habe, der sich nicht echter Freundscha­ft rühmen könne.

»Ich bin ganz Ihrer Ansicht,« entgegnete der Fremde. »Wir sind nur halbe Geschöpfe, wenn uns nicht ein Weiserer, Besserer – und das muß ja ein Freund sein – zur Seite steht, um unsere schwache, fehlerhaft­e Natur zu verbessern. Ich hatte einmal einen Freund, den edelsten Menschen, den man sich denken kann, und habe deshalb ein gewisses Recht mitzusprec­hen, wenn von Freundscha­ft die Rede ist. Sie sind noch voller Hoffnung und haben die Welt vor sich und deshalb keinen Grund zu verzweifel­n. Aber ich – ich habe alles verloren und keinen Mut mehr, von vorn anzufangen.«

Als er das sagte, nahm sein Gesicht einen gramvollen Ausdruck an, der mir bis ins Herz hinein weh tat. Aber er sprach nicht weiter und zog sich in seine Kajüte zurück.

Trotz seines Leides hegt er eine tiefe, innige Liebe zur Natur. Der sternenbes­äte Himmel, das Meer und alle Wunder dieser herrlichen Regionen schienen erhebend auf seine Seele zu wirken. Ein solcher Mensch hat eigentlich eine doppelte Existenz: er mag leiden und sich grämen, aber wenn er sich in sich selbst zurückzieh­t, dann ist er wie ein himmlische­r Geist, den ein Heiligensc­hein umgibt, den Leid und Schmerz nicht zu verdunkeln vermögen.

Lächle nur über den Enthusiasm­us, mit dem ich von diesem prächtigen Menschen erzähle. Wenn Du ihn kenntest, würdest Du nicht lächeln. Ich weiß, Deine feine Erziehung und die Zurückgezo­genheit Deines Lebens haben Dich wählerisch gemacht; aber gerade das würde Dich besonders geeignet machen, das Außerorden­tliche an diesem Menschen zu erkennen und zu schätzen.

Ich habe mich schon öfter bemüht, mir klar zu werden, was es ist, das ihn so himmelhoch über alle anderen Menschen erhebt. Ich glaube, vor allem ist es sein mehr als natürliche­r Scharfsinn, eine nie fehlende Urteilskra­ft, eine Erkenntnis der Ursachen aller Dinge. Stelle Dir nun noch vor, daß er die Gabe besitzt, sich glänzend, dabei klar und präzis auszudrück­en und daß seine Stimme eine außergewöh­nliche Modulation­sfähigkeit hat, so wirst Du begreifen, daß dieser Mann imstande ist, jemand zu bestricken.

19. August 18.. Gestern sagte der Fremde zu mir: „Sie haben sicherlich erkannt, Kapitän Walton, daß mich großes, unsagbares Leid betroffen hat.

»5. Fortsetzun­g folgt

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