Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Sie kämpft gegen ihre Peiniger
Nadia Murad wollte nicht länger Opfer sein. Die Jesidin war Sex-Sklavin des IS
Stuttgart Ihr Telefon muss gar nicht mehr aufgehört haben zu klingeln an diesem Tag. Doch zu erreichen ist sie nicht. „Ich konnte sie noch nicht sprechen“, sagt Jan Ilhan Kizilhan, Psychologe aus Baden-Württemberg. „Es ist immer besetzt.“Kein Wunder: Nadia Murad, die junge Frau aus dem Nordirak, ist mit einem Preis ausgezeichnet worden, der die Krönung ihres Wirkens ist: Für ihr Engagement für die Jesiden erhält sie den Friedensnobelpreis. „Als Opfer des Terrors hat sie es geschafft, zu einer Überlebenden zu werden“, sagt Kizilhan. Der 53-Jährige war es, der Murad im Jahr 2015 aus dem Kriegsgebiet nach Deutschland geholt hatte. „Sie saß in einem Zelt, in dem nichts als ein paar Decken lagen, völlig zusammengekrümmt“, erzählt Kizilhan. „Sie weinte immer wieder, während sie ihre Geschichte erzählte.“
Murad überlebte monatelang als Sex-Sklavin der Terrormiliz IS. „Der Tod ist harmlos im Vergleich zu der Hölle, durch die wir alle gehen mussten.“Gefoltert, missbraucht, gedemütigt. Aber die junge Jesidin, die seit Jahren in BadenWürttemberg lebt, wollte nie Opfer sein. Nach ihrem Martyrium erhebt Murad die Stimme und kämpft gegen die Versklavung ihrer Glaubensschwestern. Mehrere hunderttausend Frauen werden in bewaffneten Konflikten jedes Jahr systematisch vergewaltigt. Murad ist eine der wenigen Frauen, die über ihre Qualen sprechen. Vor dem UN-Sicherheitsrat hält sie im Dezember 2015 eine Rede, die mit der Schilderung der ihr zugefügten sexuellen Gewalt erschüttert.
Die heute 25-Jährige kommt aus einem Dorf im Sindschar-Gebiet. Eigentlich wollte sie nach der Schule in einem Schönheitssalon arbeiten. Dieser Traum löst sich in Luft auf, als Schergen des IS im August 2014 ihr Dorf überfallen. Ihre Mutter und ihre Brüder werden getötet, Murad gefangen genommen, benutzt, verkauft. „Blonde, blauäugige und hellhäutige Mädchen waren besonders gefragt“, erzählt sie später. Die jungen Frauen werden in die Großstadt Mossul verschleppt. Ein Mann kauft Murad auf dem Sklavenmarkt, später verkauft er sie an einen anderen weiter. Drei Monate überlebt sie, wo viele längst aufgegeben hätten. Bis die junge Frau beim Kauf einer Burka ihren Peinigern entkommt. Ausgerechnet eine muslimische Familie hilft der jungen Jesidin bei der Flucht ins kurdische Grenzgebiet, wo sie in einem Flüchtlingslager nahe Dohuk Unterschlupf findet.
Murad spricht offen über ihre Qualen, klagt an, reist als Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen um die Welt, um auf das Leid der jesidischen Frauen und Kinder aufmerksam zu machen. Mit Menschenrechtsarbeit verarbeitet sie ihre Traumata, teils bis an den Rand der eigenen Kräfte. Die 25-Jährige kämpft dafür, dass die Terroristen vor ein internationales Gericht kommen. „Manchmal habe ich gedacht, dass sie auch mich zerstört hätten“, sagt Murad einmal mit Blick auf ihre damaligen Peiniger. Doch nun wisse sie: Sie habe überlebt, um der Welt von den Verbrechen zu berichten.
Doch Nadia Murad hat inzwischen auch im Privaten ihr Glück gefunden. „Nadia hat sich vor kurzem verlobt, möchte heiraten, eine Familie gründen und Kinder bekommen“, erzählt Psychologe Jan Kizilhan. Er wird sie weiter unterstützen.
„Der Tod ist harmlos im Vergleich zu der Hölle, durch die wir alle gehen mussten.“
Nadia Murad