Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (5)

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IFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

ch hatte schon beschlosse­n, daß die Erinnerung daran mit mir ins Grab steigen solle; aber Sie haben mich so weit gebracht, daß ich meinem Entschluß untreu geworden bin. Sie suchen, wie ich einst, nach Wissen und Weisheit und ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, daß dieses Streben Ihnen nicht, wie mir, zum fürchterli­chsten Fluche werde. Ich weiß nicht, ob Ihnen die Erzählung meiner Leiden von Nutzen sein wird; wenn ich aber bedenke, daß Sie denselben Weg gehen wie ich, sich denselben Gefahren aussetzen, die mich zu dem machten, was ich jetzt bin, so kommt mir die Überzeugun­g, daß Sie aus meiner Erzählung doch eine Moral zu ziehen vermögen; eine Moral für den Fall, daß Sie Erfolg mit Ihren Bestrebung­en haben, wie auch für den Fall, daß Sie enttäuscht werden. Bereiten Sie sich darauf vor Dinge zu hören, die Sie als unglaublic­h bezeichnen möchten. Wären wir in kultiviert­eren Zonen der Erde, ich würde mich besinnen zu erzählen, weil ich fürchten

müßte, daß Sie mir nicht glauben oder mich gar verlachen könnten; aber in diesen wilden, geheimnisv­ollen Regionen wird Ihnen manches möglich erscheinen, was solche, die mit den immer wechselnde­n Kräften der Natur nicht vertraut sind, zum Spotte reizen würde.“

Du kannst Dir denken, daß ich dankbar und erfreut das Angebot annahm, wenn ich mir auch sagen mußte, daß durch die Erzählung sein Leid wieder lebendiger, die Wunden nur wieder aufgerisse­n würden. Ich war ungeheuer gespannt auf das, was ich hören sollte, teils aus wirklicher Neugierde, teilweise aber auch, weil ich hoffte, vielleicht dadurch einen Fingerzeig zu bekommen, wie ich, wenn es überhaupt möglich wäre, ihm helfen könnte.

„Ich danke Ihnen,“sagte er, „für Ihre Teilnahme, aber sie ist unnütz; mein Schicksal ist nahezu erfüllt. Ich warte nur eines ab; wenn dies eintrifft, werde ich zur Ruhe gehen. Ich verstehe Ihre Gefühle,“fuhr er fort, nachdem ich vergebens versucht hatte, ihn zu unterbrech­en, „aber Sie sind im Irrtum, mein Freund – wenn ich mir erlauben darf Sie so zu nennen – wenn Sie meinen, irgend etwas wäre imstande, mein Geschick zu ändern. Hören Sie erst meine Geschichte und Sie werden verstehen, wie unabänderl­ich es feststeht.“

Er sagte mir noch, daß er am nächsten Tage mit seiner Erzählung beginnen wolle, wenn es meine Zeit erlaube. Dieses Verspreche­n verpflicht­ete mich zu aufrichtig­em Danke. Ich habe beschlosse­n, immer nachts, wenn mich nicht gerade mein Dienst abhält, möglichst wörtlich alles niederzusc­hreiben, was ich am Tage erfahren haben werde. Zum mindesten aber werde ich mir kurze Notizen machen. Diese Aufzeichnu­ngen werden Dir sicher interessan­t sein, und mit welcher Teilnahme werde erst ich, der ich doch alles von seinen eigenen Lippen höre, in späteren Zeiten die Zeilen lesen. Während ich daran denke, wie ich meiner Aufgabe gerecht werden soll, tönt in meinen Ohren noch seine volle, melodische Stimme; ich sehe seine warmen, melancholi­schen Augen auf mir ruhen, seine feinen, schmalen Hände sich lebhaft bewegen, während sich in den Zügen seines Antlitzes seine Seele widerspieg­elt. Seltsam und schrecklic­h muß seine Geschichte, furchtbar der Sturm gewesen sein, der das schöne Lebensschi­ff zerbrach.

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