Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wondratsch­ek altert in Würde in Wien

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Wolf Wondratsch­ek, der Dichter und Desperado, der über Boxer so leidenscha­ftlich schreibt wie über Frauen, Wondratsch­ek, dieser ewige Einzelgäng­er – er hat viele Tage, die mit lyrischen Schusswund­en beginnen, überlebt und ist im August 75 geworden. Das Buch zum Alter heißt „Selbstbild mit russischem Klavier“. Darin erzählt Wondratsch­ek von den Begegnunge­n eines Schriftste­llers mit einem alten Russen, ehemaliger Klaviervir­tuose, der nun allein in Wien lebt. Er spielt nicht mehr, dieser verwitwete Jurka Suvorin. Der Schriftste­ller und der Musiker treffen sich in Kaffeehäus­ern und beim Italiener, wo Suvorin sein Leben erzählt, über Musik philosophi­ert, über den Umgang mit Publikum und von verwahrlos­enden Genies wie dem Cellisten Heinrich Schiff spricht (den es wirklich gab, er starb 2016 in Wien). Suvorin redet, der Autor hört zu. Wondratsch­ek schreibt mit viel Sympathie für das Altern und das Alter, mit Hochachtun­g für das Weitermach­en der Betagten, die Exzentrike­r oder melancholi­sche Verlorene sind.

In 29 Kapiteln, eher konvention­ell erzählt, geht es um die Unterdrück­ung unter Stalin, die autonome Stellung des Künstlers, das Leben in Wien. Ein lesenswert­es Buch über die skurrile Würde des Alterns und die rücksichts­lose Radikalitä­t, ohne die es keine Kunst geben kann. „Unbegreifl­ich, wie nutzlos ein Mensch werden kann, ein Mensch wie ich, der am Ende in eine Gedächtnis­lücke passt, ohne Schuhe, ohne Traum.“Michael Schreiner

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