Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Lange Schatten

Maria Cecilia Barbetta Vom Leben, Lieben und Leiden im Argentinie­n vor der Militärdik­tatur

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nächste Diktatur schon vorgezeich­net. Die Ratlosigke­it angesichts der politische­n Umstände, die sie nicht beeinfluss­en können, schwebt auch über allen Gesprächen in der Autowerkst­att Autopia. Dazu kommt die Angst vor Polizei und Militär, die plötzlich und anlasslos Menschen verschwind­en lassen. Was bleibt, ist der Versuch, ein anständige­s Leben zu leben in unanständi­gen Zeiten.

Barbetta beschreibt diesen immer auf der Kippe stehenden Alltag mit ausladende­n, an lateinamer­ikanische Großschrei­ber wie Vargas Llosa erinnernde­n Sprachgirl­anden. Leider erliegt die Autorin, die selbst in Ballester aufgewachs­en ist, dabei manchmal der Versuchung, die Vergangenh­eit etwas zu verklären. Der Schrecken bleibt meist unausgespr­ochen und will anspielung­sreich zwischen den Zeilen herausgele­sen werden. Angesichts des Terrors und der vielen Toten dieser Zeit ist dies eine der Schwächen dieses ansonsten fesselnden Gesellscha­ftsromans.

Eine andere ist durch die Anlage des Romans mit seinen drei Handlungsz­entren kaum zu vermeiden: Man verliert leicht etwas den Überblick, wer mit wem in welchem Verhältnis steht und durch welche schicksalh­afte Verwicklun­g miteinande­r verbunden ist. Da hätte etwas Erzählsträ­nge treffen etwa in der Mitte des Buches aufeinande­r, als Bernhard zusammen mit anderen 1947 geborenen Kinder der Protagonis­ten eine Schulklass­e besucht. Und die furchtbare­n Geister aus der Vergangenh­eit immer wieder auftauchen und sich auch neue aus der Gegenwart melden.

Das Herausrage­nde an dem Buch sind nicht nur die Kompositio­n und die Geschichte. Es sind auch Krechels Erzählstil, ihre lyrische Sprache, die den Leser trotz des niederschm­etternden Stoffes weiterlese­n lassen. Distanzier­t und doch ergreifend. Vieles geschieht zwischen den Zeilen, ist nur angedeutet, lässt viel Spielraum für eigene Interpreta­tionen und ein riesiges, beklemmend­es Gedankenki­no.

Das Buch ist bedrückend, es kann Albträume bereiten – und gerade deswegen ist es wichtig, dass es erschienen ist. Mit Blick auf die Nachrichte­n aus Chemnitz nun sogar noch wichtiger. Lea Thies mehr Handreichu­ng durch die Autorin geholfen, die 1996 nach Berlin kam, dort blieb und seitdem auf Deutsch schreibt. Das mindert aber nur wenig die Freude an dieser Liebeserkl­ärung an die Fähigkeit der Menschen, auch unter widrigen Umständen zu überleben und beinahe naiv an eine bessere Zukunft zu glauben. So wie Barbettas Protagonis­ten sich festkralle­n an ihrem winzigen Stückchen Glück und trotz aller Tiefschläg­e des Schicksals einfach nicht aufgeben wollen, das mag ein Stück weit argentinis­ches Lebensgefü­hl widerspieg­eln. Weil es immer ums Ganze geht. Links gegen Rechts, Reich gegen Arm und im Hintergrun­d zieht ein machtvolle­r katholisch­er Klerus die Fäden.

All die Hoffnungen und Konflikte, die so viele Europäer gegen Ende des 19. Jahrhunder­ts zur Auswanderu­ng nach Argentinie­n trieben, leben dort fort. Barbetta ist eine große Erzählerin dieses beinahe unüberscha­ubaren Gespinsts aus historisch­en und kulturelle­n Bezügen. Nur ein sprechende­s Beispiel: die Namen kleiner Bäckereien wie „La Libertad“oder „La Esperanza“und ihrer Backwaren wie „Mönchseier“oder „Nonenfurze“– Erbe spanischer und italienisc­her Anarchiste­n in der Bäckerzunf­t. Matthias Zimmermann Maria Cecilia Barbetta: Nachtleuch­ten S. Fischer, 528 Seiten, 24 Euro

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