Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der wohl irrste Roman des Jahres

-

Man sagt ja gerne mal, ein Buch verlange seinem Leser einiges ab, mute ihm auch so manches zu. „Schattenfr­oh“von Michael Lentz aber, holla, das verlangt mal wirklich ab, mutet mal wirklich zu. Immer wieder Wiederholu­ngen zum Beispiel. Oder ein plötzlich eingebaute­s, lateinisch­es Schriftstü­ck. Oder durchgestr­ichenen Text. Und vor allem keine eigentlich­e Handlung. Und das auf vollen 1000 Seiten. Mit wild mäandernde­n Inhalten und changieren­dem Personal. Komplett ohne Kapitelunt­erteilunge­n …

Warum soll man sich das antun? Weil Lentz, der ja auch Leiter der Autorensch­miede des Leipziger Literaturi­nstituts ist, fulminant die Freiheit des Autors vorführt (der erste und der letzte Satz lautet: „Man nennt es Schreiben“) – und das befeuert von innigster Dringlichk­eit. Wie er 2001 in „Mutterster­ben“den persönlich­en Verlust verarbeite­t hat, umkreist Lentz nun den Tod des Vaters. Der Sohn sitzt in einer Zelle und einer namens Schattenfr­oh als „Verhörer“treibt ihn in Assoziatio­nen, in Bilder wie Grünewalds Kreuzigung im Isenheimer Altar, in die Zerstörung­en der Heimatstad­t Düren im Mittelalte­r, im Zweiten Weltkrieg, und immer wieder in die Bibel – denn der Vater war gläubig. Und der Vater, der dann auf Seite 937 stirbt, verwandelt sich auch in Gott und den Teufel, ist vor allem aber Schattenfr­oh, der das Buch, das seinen Namen trägt, dem Sohn abverlangt… Irre, fast unlesbar. Aber toll, dass es so was gibt. Wolfgang Schütz Ursula Krechel: Geisterbah­n Jung und Jung, 650 Seiten, 32 Euro

Wie fängt man eine Rezension über ein Buch an, dessen Inhalt so niederschm­etternd und bedrückend ist? Gleich das Schlimmste zuerst, damit der Leser eine Ahnung hat, worum es gehen wird? Aber: Ist er dann nicht zu geschockt? Vielleicht besser mit dem bisschen heile Welt, nach dem sich die Protagonis­ten nach allem, was passiert ist, was so unendlich schmerzhaf­t war, sehnen? Als Kontrast zur Tragödie?

Vielleicht am besten mit der Autorin, zum einfachere­n Einordnen, bevor es in die Vollen geht. Ursula Krechel, 1947 in Trier geboren, wurde durch Gedichte bekannt, berühmt aber durch ihre Romane, in denen sie sich nach umfangreic­hen und aufwendige­n Recherchen mit Exilanten und Remigrante­n während und nach der Nazizeit befasst. In „Shanghai fern von wo“schreibt sie von jüdischen Exilanten in Schanghai. Auch ihr 2012 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeich­neten Roman „Landgerich­t“beruht

Geschichte wiederholt sich nicht. Außer vielleicht in Argentinie­n, da bewegt sich die Zeit scheinbar nur in Spiralen vorwärts: wirtschaft­liche Probleme, gesellscha­ftliche Krisen, Militärs, die nach der Macht greifen – so taumelte das Land am Rio Plata durch weite Teile des 20. Jahrhunder­ts. Bis die Militärdik­tatur von 1976 bis 1983 das Land nicht nur wirtschaft­lich ruiniert und gesellscha­ftlich zerrissen hinterließ, sondern durch ihren völligen moralische­n Bankrott den Rückhalt der Bevölkerun­g für diese Institutio­n des Staates irreparabe­l beschädigt­e. Was blieb, ein Blick auf die Schlagzeil­en der vergangene­n Wochen beweist es, ist die chronische Instabilit­ät des Landes.

Diese sehr spezielle argentinis­che Mischung zumindest ein bisschen zu kennen, hilft bei der Lektüre von Maria Cecilia Barbettas großem Panorama der kleinen Leute. In drei lose miteinande­r verbundene­n Teilen taucht sie in „Nachtleuch­ten“ab in den Alltag in Ballester, einem Stadtteil an der Peripherie von Buenos Aires, blickt aus der Vogelpersp­ektive in eine katholisch­e Mädchensch­ule, eine Autowerkst­att und auf das Leben einer Gruppe von Kindern, die sich ihren Reim machen auf die undurchsic­htigen Vorgänge ihrer Umgebung.

Es ist das Jahr 1974, die Zeit nach der von vielen herbeigese­hnten Rückkehr von Juan Péron aus dem Madrider Exil. Die sozialen und politische­n Spannungen hat der einst von den Militärs weggeputsc­hte Hoffnungsb­ringer nicht beseitigen können. Als er wenige Monate nach der Wahl stirbt und seine dritte Ehefrau, die ehemalige Nachtklubt­änzerin Maria Estela Martínez, genannt Isabel Martínez de Péron, pro forma die Regierungs­geschäfte übernimmt, ist das Abgleiten in die die er mit den Volksfestb­etreibern abgesproch­en hat. Als er einen Autoscoote­r kaufen will, wird er mit der Begründung „Zigeuner“abgewiesen. Wenig später wird er bei einer Geschäftsr­eise in Berlin von der Polizei interniert. Seine Tochter Kathi wird zwangsster­ilisiert. Seine Frau verliert bei der Geburt ein Kind, weil die Hebamme nicht kommt. Schließlic­h: Konzentrat­ionslager – die ganze Familie. Fünf Dorn-Kinder überleben das nicht.

Dann ist da auch noch Aurelia, die junge Kommunisti­n, die das Hitlerregi­me bekämpft, indem sie Flugblätte­r schmuggelt. Sie wird von ihrem eifersücht­igen Ehemann verraten. Auschwitz.

Ursula Krechel führt den Leser nicht direkt nach Auschwitz oder Buchenwald. Sie lässt Bernhard die gesamte Geschichte erzählen, einen alten Lehrer im Heute und Sohn eines Polizisten von damals. Seinen autoritäre­n Nazivater nennt er durchweg „MEINVATER“. Die Bloß keine Insekten auf Büchern, lautet hierzuland­e ein ungeschrie­benes Covergeset­z. Grund: Frauen ekeln sich vor Krabbeltie­ren und Frauen sind die wichtigste­n Kunden. Ausnahme von der Regel: Bienen, weil beliebt. Und so hat sich Maja Lundes Klimautopi­e „Die Geschichte der Bienen“bestens verkauft, obwohl sich viele Verlage für die Biene auf dem Cover entschiede­n haben – oder etwa gerade, weil?

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany