Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Zwei Stars, eine Idee
Michael Ondaatje vs. Jennifer Egan Kindheit, Krieg, Familiengeheimnisse – wer erzählt besser?
Barack Obama hat recht. Als der ehemalige US-Präsident kürzlich jedenfalls die Liste seiner aktuellen Lese-Empfehlungen veröffentlichte, waren das nicht nur folgende vier Bücher: die Romane „Ein Haus für Mister Biswas“von V. S. Naipaul und „An American Marriage“von Tayari Jones sowie die Sachbücher „Factfulness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“des schwedischen Arztes Hans Rosling und die Autobiografie „Befreit“der jungen amerikanischen Historikerin Tara Westover. Es war auch noch die bessere zweier Neuerscheinungen, in denen StarAutoren eine frappierend ähnliche Geschichte erzählen.
Der in Sri Lanka geborene und in Kanada lebende Michael Ondaatje, 75, ist weltbekannt seit seinem auch gleich neunfach Oscar-prämiert verfilmten Bestseller „Der englische Patient“; die Amerikanerin Jennifer Egan, 56, gehört spätestens seit ihrem Roman „Der größere Teil der Welt“(2011), mit dem sie samt Pulitzer-Preis mächtig abgeräumt hat, zu der ersten Riege der US-Gegenwartsautoren. Von ihm ist nun „Kriegslicht“erschienen, benannt nach der ins bläulich Diffuse gedämpften Nachbeleuchtung Londons in Sorge vor deutschen Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg, von ihr „Manhattan Beach“, benannt nach den Sandstränden ganz im Süden von Brooklyn, ein New Yorker Naherholungsgebiet, einst in Teilen in Privatbesitz und nach Kriegseintritt der USA mitunter aus Sorge vor deutschen U-Boot-Angriffen auf New York gesperrt.
Nun kommt es ja auch abseits absehbarer Jahrestage in Krieg und Pop-Kultur oder aktueller Anlässe in Politik und Gesellschaft immer wieder zu erstaunlichen Überschneidungen in der Stoffwahl – im vergangenen Jahr etwa traten der Norweger Morten Brask und der Deutsche Claus Cäsar Zehrer praktisch zeitgleich mit einer Romanbiografie über das einstige Wunderkind William Sidis hervor. Aber bei aller zudem ohnehin hohen Konjunktur historischer Themen in der Gegenwartsliteratur – die Ähnlichkeit zwischen „Kriegslicht“und „Manhattan Beach“ist ja nicht nur thematisch, sondern auch strukturell und dramaturgisch.
Michael Ondaatje erzählt aus der Sicht des Jungen Nathaniel, Jennifer Egan mit dem Mädchen Anna im Zentrum. Es sind Geschichten des Aufwachsens in Zeiten des Krieges, samt heimlichen ersten Erfahrungen in der Liebe und Abenteuern, aber vor allem mit alltäglicher Not und darum verschwimmenden Grenzen der Legalität. Die jeweils vierköpfige Familie von Nathaniel und Anna, sie werden in diese Grauzonen hineingerissen und dadurch zerrissen – beiden geht jeweils auf rätselhafte Weise der ihnen näher stehende Elternteil verloren, Anna in New York der Vater, Nathaniel in London die Mutter. Ohne Fronteinsatz, ohne Todesgewissheit. Beide verschwinden auf eine Weise, die nahelegt, dass sie neben ihrem Leben mit den Familien noch eine Identität gelebt haben müssen.
Nathaniel, der fortan samt seiner Schwester Rachel unter der Obhut fragwürdiger Freunde seiner Eltern lebt, und Anna, die anfangs noch mit Schwester und Mutter wohnt, sich dann allein durchkämpft, sie haben aber zu diesem Verschwinden jeweils nur eine kleine Spur: einen undurchsichtigen Mann, der vielleicht der Schlüssel zu jenen anderen Identitäten sein und jedenfalls mehr wissen könnte. Und so machen sich Nathaniel in London wie Anna in New York auf einen längeren, abenteuerlichen Weg, um schließlich herauszufinden, was wirklich geschehen ist. Jedenfalls geschehen in beiden Fällen Morde. Und in den jeweils sehr lebendig gezeichneten Kulissen einer wankenden Welt mit einem ganzen Sammelsurium ebenso wankenden Identitäten geht es um Leben und Tod, Recht und Unrecht, Schuld und Sühne, Gangster und Spionage – großes Kino.
Nun Barack Obama: Obwohl ihm die Landsfrau Jennifer Egan mit ihrem amerikanischen Panorama in „Manhattan Beach“eigentlich näher liegen müsste, hat der Ex-USPräsident mit Michael Ondaatjes „Kriegslicht“eben doch das bessere der beiden Bücher auf seiner Liste. Bei Egan wird vor allem die Hauptfigur Anna sehr nahbar – im Verhältnis zum Vater und zur behinderten Schwester Lydia, wie im Ringen um ein modernes Frausein. Und die jahrelangen Recherchen der Autorin bis hin zu eigenen Tauchgängen in historischer Ausrüstung sorgen auch für ein bis in die Details eindrucksvoll stimmiges Kolorit. Aber in der weiteren Konstruktion der Geschichte wie in der Charakterisierung einiger Nebenfiguren zeigt sich: Sie hat wohl zu viel gewollt, nur noch die passenden Typen für möglichst alle Zeitfragen besetzt und immer noch mehr Effektmomente aufgeschichtet, sodass der Roman langsam ins Melodramatische abgleitet. Schade.
Reichlich Drama gibt es zwar auch bei Ondaatje. Aber mit in seine Galerie starker zwielichtiger Gestalten setzt er mit dem ungleich verwundeter wirkenden Nathaniel und als Gegenpol der Schwester Rachel die Mehrdeutigkeit, das Fragen: „Wir ordnen unser Leben dank kaum näher ausgeführter Geschichten. Als hätten wir uns in einer verwirrenden Umgebung verlaufen und sammelten nun, was unsichtbar und unausgesprochen war – Rachel, der Zaunkönig, und ich, Stitch –, und nähten das alles zusammen, um zu überleben, fragmentarisch und unbekannt, ähnlich den Platterbsen an jenen während des Krieges verminten Küsten.“Den Menschen unzugänglich blühten so damals die Strände. Schön. Wolfgang Schütz
Wie Nathaniel in London ist Anna in New York auf Wahrheitssuche