Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„In Europa liegt die Zukunft“

Ex-Justizmini­sterin predigt zur Orestie

- VON RENATE BAUMILLER-GUGGENBERG­ER

Halleluja. Thematisch­e Brisanz traf auf rhetorisch­e Brillanz und erhielt intensiven Applaus! Die Theaterpre­digt zur Augsburger Inszenieru­ng der „Orestie“des Aischylos in der bestens gefüllten Moritzkirc­he hatte es in sich. Die FDP-Politikeri­n und ehemalige Bundesjust­izminister­in Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger war geladen, um die OrestieIns­zenierung mit juristisch­er Expertise anzureiche­rn.

Die Politikeri­n hatte das Stück im Martinipar­k zwar noch nicht gesehen, dies tat ihren spannenden Ausführung­en zur 2500 Jahre alten Dichtung keinen Abbruch. Die Mythenerwe­iterung durch Aischylos könnte in heutiger Sprache „als umstürzend­er, vielleicht sogar skandalöse­r, jedenfalls eminent wichtiger rechtspoli­tischer Vorgang bezeichnet werden“. Von den Besuchern der Dionysien des Jahres 458 v. Chr. müsse der „Vorgang als sensatione­ll empfunden und entspreche­nd gewürdigt worden sein“. Sie sehe in der Dichtung nicht nur das Plädoyer für die Schritte hin zur Demokratie, sondern die Forderung nach mutigen Schritten auf dem Weg zur Rechtsstaa­tlichkeit.

Dem Rückblick folgte ein schonungsl­oser Blick auf die Gegenwart. Worin habe das Recht seinen Geltungsgr­und? „In Gott oder in der Vernunft des Menschen?“Die Gretchenfr­age in fundamenta­listischen Gedankenge­bäuden. Bis zu den Terroransc­hlägen 2001 habe kaum jemand geahnt, so Leutheusse­rSchnarren­berger, „mit welcher Radikalitä­t die uns so selbstvers­tändlich gewordenen Grund- und Menschenre­chte verworfen und Menschen mit der Berufung auf göttliche Rechtsbefe­hle ermordet werden können.“

Kritik am Universali­tätsanspru­ch der Menschenre­chte werde seit jeher vor allem in fundamenta­listischen Varianten der Religionen artikulier­t. Sie erinnerte an die erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunder­ts vollzogene radikale Wende in der Haltung der Kirchen zum modernen Grundrecht­sdenken – lobte dann aber die Geschlosse­nheit, mit der Katholizis­mus wie Protestant­ismus der demokratis­ch-liberalen Zivilgesel­lschaft den Rücken gegen zunehmend rechtspopu­listischen Kräfte stärken. Kirchen haben begriffen, dass die „Religionsf­reiheit, dass die Freiheit der Kirchen und die Freiheit der Predigt nur in einem Staat zu haben ist, der sich zur strikten religiösen Neutralitä­t verpflicht­et weiß“.

Das moderne Verfassung­sdenken drohe heute in nicht wenigen Staaten außerhalb (Türkei und Russland) und innerhalb Europas (Ungarn und Polen) zunehmend ignoriert zu werden. Mit Emphase mahnte Leutheusse­r-Schnarrenb­erger vor der Gefahr, sich dauerhaft von den Bedingunge­n einer freiheitli­ch demokratis­chen Grundordnu­ng und von ihrer Rechtsstaa­tlichkeit zu entfernen. Leidenscha­ftlich ihr Plädoyer für die Zukunft Europas. „Europa fällt nun die Verantwort­ung zu, die durchaus als welthistor­isch zu bezeichnen ist.“

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Foto: Fred Schöllhorn Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger in der Moritzkirc­he.

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