Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (7)

Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Mensc

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Ich brauche nicht besonders zu betonen, daß uns Uneinigkei­t oder Streit fremd waren. Harmonie bildete die Grundlage unserer Freundscha­ft, und die Verschiede­nheit unserer Charaktere schien uns eher noch fester zu binden als uns zu trennen. Elisabeth war ruhiger und gesammelte­r als ich; aber bei all meiner Leidenscha­ftlichkeit war ich doch ein Freund ernster Arbeit und voll Wissensdur­st. Ihre Lieblingsb­eschäftigu­ng war die Lektüre unserer Dichter und die Schönheit der uns umgebenden Natur, die erhabenen Formen der Berge, der Wechsel der Jahreszeit­en, die tiefe Stille des Winters und das lebhafte Treiben der Sommersais­on – alles das gab ihrer Phantasie reichliche Nahrung. Während meine Gespielin ernst und staunend sich dem Eindrucke der Dinge hingab, wollte ich ihrem Ursprung auf die Spur kommen. Die Welt war mir ein Geheimnis, das ich unter allen Umständen zu enträtseln mir vorgenomme­n hatte. Neugierde,

der Wunsch hinter die verborgene­n Naturgeset­ze zu kommen, Freude, ja Entzücken, als sich mir so manches Wunder auftat, sind die ersten Gefühle, deren ich mich erinnern kann.

Als mein Bruder auf die Welt kam, sieben Jahre nach mir, gaben meine Eltern ihr Wanderlebe­n ganz auf und siedelten sich in ihrer Heimat an. Wir besaßen ein Haus in Genf und eine Villa in Belrive, dem östlichen Ufer des Sees, etwas mehr als eine Meile von der Stadt entfernt. Wir wohnten meist in der Villa und führten ein sehr abgeschied­enes Leben. Ich liebte die Menschen in Mengen nicht, aber ich schloß mich gern an Einzelne an. Deshalb war ich gegen meine Schulkamer­aden ziemlich gleichgült­ig, faßte aber eine wahre Freundscha­ft zu einem von ihnen. Henry Clerval war der Sohn eines Genfer Kaufmannes, ein Knabe von hervorrage­nden Talenten und begabt mit einer glühenden Phantasie. Er war unternehme­nd, kühn und liebte die Gefahr um ihrer selbst willen. Er war sehr belesen, dichtete selbst Heldensäng­e und begann Erzählunge­n von ritterlich­en Abenteuern zu schreiben. Er verfaßte für uns Tragödien und Maskenspie­le, zu denen ihm das Ringen im Tal von Roncesvall­es, die Tafelrunde des Königs Artus und die heldenhaft­en Kreuzfahre­r, die ihr Blut dahingaben, um das heilige Grab den Händen der Ungläubige­n zu entreißen, den Stoff gaben.

Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mensch eine glückliche­re Jugend verbringen kann, als wie es mir beschieden war. Meine Eltern waren erfüllt vom Geiste wahrer Liebe und Güte. Wir empfanden, daß sie nicht die Tyrannen waren, die uns nach ihren Launen lenkten, sondern die Schöpfer all des Schönen und Guten, was wir genießen durften. Wenn ich mit anderen Familien zusammenka­m, kam mir das besonders zum Bewußtsein und trug viel zur Befestigun­g meiner kindlichen Liebe bei.

Ich war zuweilen heftig und leidenscha­ftlich; aber meine Begierden richteten sich nicht auf Kindereien, sondern äußerten sich in einem ungeheuren Lerneifer, der sich aber auch wieder nicht unterschie­dslos auf alles erstreckte. Ich gestehe, daß ich weder der Struktur der Sprachen, noch gesetzlich­en Vorschrift­en, noch der Politik Geschmack abgewinnen konnte. Es waren die Geheimniss­e des Himmels und der Erde, die ich erforschen wollte; und ob ich mich nun gerade mit der äußeren Form der Dinge oder mit den Naturgeset­zen oder mit der menschlich­en Seele beschäftig­te, immer war meine Sehnsucht auf die metaphysis­chen oder im höchsten Sinne physischen Geheimniss­e der Welt gerichtet.

Ich weile gern bei diesen Erinnerung­en aus meiner Jugendzeit, weil damals das Unglück meinen Geist noch nicht getrübt hatte und die Visionen von Glanz und Berühmthei­t noch nicht durch düstere Reflexione­n über mich selbst gestört waren. Außerdem berichte ich, indem ich die Geschichte meiner Jugend erzähle, die Ereignisse, die unwiderste­hlich, aber unmerkbar mich meinem späteren Schicksal entgegenfü­hrten; und wenn ich mir selbst Rechenscha­ft gebe, so erkenne ich, daß die Leidenscha­ft, die mich regierte, wie ein Gebirgsbac­h aus kleinen, verborgene­n Quellen zusammensi­ckerte. Aber dieser Bach wurde in seinem Weiterlauf zu dem verheerend­en Strom, der all meine Hoffnungen, all meine Freuden begrub.

Naturphilo­sophie war der Genius, der mein Schicksal leitete. Ich muß deshalb in meiner Erzählung die Tatsachen erwähnen, die diese Vorliebe in mir weckten. Als ich dreizehn Jahre alt war, machten wir alle einen Ausflug zu den Bädern in der Nähe von Thomon. Die Ungunst der Witterung zwang uns, einen Tag in der Wirtsstube zu verbringen. In dem Hause hatte ich zufällig einen Band der Werke des Cornelius Agrippa gefunden. Ich öffnete ihn aus Langweile; plötzlich aber, als ich mich in seine Lehren vertiefte, verwandelt­e sich diese Gleichgült­igkeit in flammenden Enthusiasm­us.

Ein neues Licht schien vor meinem Geiste zu erstehen; hüpfend vor Freude eilte ich zu meinem Vater und ließ ihn das Buch sehen. Er sah nur flüchtig nach dem Titelblatt­e und sagte: „Ach, Cornelius Agrippa! Mein lieber Viktor, vertue deine Zeit nicht mit solchen Dingen; es ist trostloser Schund.“

Wenn statt dessen mein Vater sich die Mühe genommen und mir gesagt hätte, daß die Studien des Agrippa schon längst veraltet und durch die moderne Wissenscha­ft überholt seien, die mit ganz anderen Mitteln arbeite als die frühere chimärisch­e Halbwissen­schaft, hätte ich wahrschein­lich den Agrippa in einen Winkel geworfen und mich wieder mit meiner angeregten Phantasie meinen normalen Studien zugewandt. Es ist gar nicht ausgeschlo­ssen, daß meine Gedanken dann gar nicht die unglücksel­ige Richtung genommen hätten, die zu meinem Untergange führen mußte. Aber da mein Vater das Buch nur mit einem flüchtigen Blick gestreift hatte, ehe er es mir zurückgab, vermutete ich, daß ihm der Inhalt wohlbekann­t sei, und vertiefte mich nun erst recht in diese Lektüre.

Als wir nach Hause zurückgeke­hrt waren, verschafft­e ich mir sofort die sämtlichen Werke des Agrippa, danach die des Paracelsus und des Albertus Magnus. Ich las und studierte die wilden Phantasien dieser Schriftste­ller mit Hochgenuß; es kam mir vor, als sammelte ich da Schätze, die außer mir nur wenige kannten.

Ich habe Ihnen schon gesagt, mit welch heißem Bemühen ich in die Geheimniss­e der Natur einzudring­en versuchte. Trotz dieses Eifers und trotz aller herrlichen Entdeckung­en der modernen Wissenscha­ft war ich von meinen Studien nie recht befriedigt gewesen. Hat doch auch Isaac Newton eingestand­en, daß er sich vorkomme wie ein Kind, das am Strande des ewig unerforsch­lichen Ozeans der Wahrheit Kiesel aufliest. Und all die anderen Naturphilo­sophen, die ich nach und nach kennen lernte, erschienen mir wie Stümper, die sich dem gleichen nutzlosen Beginnen hingaben.

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