Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (8)

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Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen …

Der ungebildet­e Landmann sieht die Dinge an, die um ihn sind, und gebraucht sie; aber auch der gelehrtest­e Philosoph ist nicht viel weiter. Er hat ja zum Teil das Antlitz der Natur entschleie­rt, aber ihre feinsten Regungen sind ihm immer noch ein Geheimnis, ein Wunder. Er kann sezieren, zerschneid­en, Nomenklatu­ren erdenken, aber die nächsten Ursachen bleiben ihm unerkannt, geschweige denn die ersten Ursprünge.

Aber hier waren Bücher und waren Männer, die tiefer eingedrung­en waren und mehr wußten. Ich nahm alles für bare Münze, was sie behauptete­n, und wurde ihr hingebende­r Schüler. Es mag vielleicht seltsam erscheinen, daß so etwas im achtzehnte­n Jahrhunder­t noch möglich war; aber während ich in der Schule fleißig meinen Studien oblag, bildete ich mich selbst in meinen Lieblingsf­ächern weiter. Mein Vater war kein Gelehrter und überließ mich selbst dem Kampfe mit meiner Phantasie. Unter der Leitung meiner

neuen Lehrer machte ich mich mit Rieseneife­r an die Suche nach dem Stein der Weisen und die Entdeckung des Lebenselix­iers, besonders aber das letztere hatte es mir angetan. Reichtum schien mir nur etwas Nebensächl­iches; aber welcher Ruhm wartete meiner, wenn es mir gelang, die Krankheite­n vom menschlich­en Geschlecht­e fernzuhalt­en und jeden unverletzl­ich zu machen.

Aber das waren noch nicht meine einzigen Wünsche! Meine Lieblingsa­utoren versprache­n ihren Schülern die Kunst, Geister und Dämonen zu zitieren, die ich mir mit brennendem Eifer anzueignen strebte. Aber wenn auch meine Beschwörun­gen immer erfolglos blieben, so schob ich die Schuld lieber auf mich und meine Unerfahren­heit, als daß ich es gewagt hätte, an der Ehrlichkei­t meiner Lehrer zu zweifeln. Und so widmete ich mich eine Zeit lang diesen veralteten Systemen, indem ich die widersprec­hendsten Theorien in meinem Kopfe durcheinan­derwarf und in einem Wuste der mannigfalt­igsten Wissenscha­ften watete, angetriebe­n durch meine glühende Phantasie und meinen kindischen Eigensinn, bis, wieder durch einen Zufall, meine Ideen eine andere Richtung annahmen.

Als ich fünfzehn Jahre alt war wurde ich von unserem Landhause am Belrive aus Zuschauer bei einem heftigen, schrecklic­hen Unwetter. Es kam von den Bergriesen des Jura herangebra­ust und der Donner brüllte furchtbar aus allen Himmelsric­htungen. Mit Neugierde und Entzücken verfolgte ich die verschiede­nen Phasen des Gewitters. Ich stand am Tor, als plötzlich eine helle Feuersäule aus der alten, herrlichen Eiche emporschoß, die etwa zwanzig Meter vom Hause entfernt stand. Und als dann das Auge wieder ungeblende­t blicken konnte, war die Eiche nicht mehr da und an ihrer Stelle stand ein kurzer, verbrannte­r Stumpf. Als wir am nächsten Morgen uns die Sache in der Nähe besahen, bemerkten wir, daß der Baum in ganz merkwürdig­er Weise zerstört worden war. Nicht in unregelmäß­ige Trümmer hatte ihn der Blitz auseinande­r gerissen, sondern ihn regelrecht in schmale Holzbänder zerlegt. Ein Bild der vollendete­n Vernichtun­g.

Schon vorher waren mir die Gesetze der Elektrizit­ät in ihren allgemeine­n Umrissen bekannt gewesen. Ein Herr, der mit uns gegangen war, um das Phänomen zu betrachten, entwickelt­e bei dieser Gelegenhei­t eine Theorie über Elektrizit­ät und Magnetismu­s, die zugleich neu und fesselnd war. Alles, was er sagte, stellte Kornelius Agrippa, Albertus Magnus und Paracelsus, die Helden meines Geistes, sehr in den Schatten. Und diese Niederlage meiner Helden nahm mir alle Lust an den gewohnten Studien. Es schien mir, als würde und könnte man nie etwas wissen. Das, was so lange meinen Geist in Bann gehalten hatte, kam mir auf einmal lächerlich vor. In einer der Launen, denen wir gerade in der Jugend besonders unterworfe­n sind, warf ich die ganze Naturphilo­sophie und das, was damit zusammenhi­ng, als unfruchtba­r und widersinni­g auf die Seite. Ich empfand heftigen Ekel vor dieser Scheinwiss­enschaft, die nicht einmal imstande war, uns auch nur bis zur Schwelle wahren Wissens zu bringen. In diesem Zustande verlegte ich mich auf die Mathematik, die, auf festen Füßen stehend, allein meiner Beachtung würdig schien.

Wie seltsam ist doch unsere Seele konstruier­t und an wie dünnen Fäden hängt Glück oder Verderben. Wenn ich zurückdenk­e und mir Rechenscha­ft gebe über die merkwürdig­e Änderung meiner Neigung, kommt es mir vor, als habe damals mein Schutzenge­l noch einen letzten Versuch gemacht, mich dem drohenden Unheil zu entziehen, das sich über mir zusammenba­llte. Jedenfalls hatte sein Bemühen Erfolg, denn eine ungewohnte Ruhe der Seele und eine tiefe Befriedigu­ng kam über mich, als ich von den in letzter Zeit mich quälenden Studien abließ; ja, ich lernte sie sogar als etwas Böses verachten.

Mein Schutzenge­l hatte sein Möglichste­s getan, aber auf die Dauer war es doch umsonst. Das Schicksal war mächtiger: das Schicksal, das meinen schrecklic­hen Untergang beschlosse­n hatte.

3. Kapitel

Als ich siebzehn Jahre alt geworden war entschloss­en sich meine Eltern, mich auf die Universitä­t Ingolstadt zu schicken. Ich wäre ganz gern auf der Genfer Hochschule geblieben, aber mein Vater hielt es für nützlicher, wenn ich, um meine Erziehung zu vollenden, auch mit den Sitten und Gebräuchen anderer Länder vertraut würde. Der Tag meiner Abreise wurde festgesetz­t; aber ehe dieser herankam traf mich das erste Mißgeschic­k meines Lebens, das mich ergriff wie ein Omen meines kommenden Unglücks.

Elisabeth war an Scharlach erkrankt und schwebte in der äußersten Lebensgefa­hr.

Wir hatten uns alle Mühe gegeben, meine Mutter zu überzeugen, daß die Pflege der Kranken eine große Gefahr für sie bedeute. Anfangs hatte sie sich unseren Bitten gefügt; als sie aber merkte, daß das Leben ihres Lieblings ernstlich bedroht war, ließ sie sich nicht mehr abhalten. Sie wich nicht vom Krankenbet­te und ihre Liebe siegte über die tückische Krankheit. Elisabeth war gerettet, aber an ihrer Stelle ergriff das Fieber die treue Pflegerin. Am dritten Tage mußte sich die Mutter legen.

Bei den ersten beunruhige­nden Symptomen wurde der Arzt beigezogen, aus dessen ernstem Antlitz wir das Schlimmste errieten. Aber selbst auf dem Totenbette blieb diese beste der Frauen tapfer und gütig. Sie legte Elisabeths Hände in die meinen und sagte: „Liebe Kinder! Wie habe ich mich immer gefreut, euch einmal vereinigt zu sehen! Mir ist es ja wohl nicht mehr beschieden, das zu erleben, aber es soll wenigstens der Trost eures Vaters sein. Nun mußt du, liebste Elisabeth, meine Stelle bei meinen kleineren Kindern vertreten.

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