Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Welches Buch lesen Sie gerade?

In Frankfurt dreht sich auf der Buchmesse wieder alles ums Lesen. Die Auswahl dort ist riesig. Wir haben Menschen aus dem Kulturlebe­n nach ihrer aktuellen Lektüre gefragt und worum es in den Büchern geht

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Eva Thoma

Schlosser’sche Buchhandlu­ng

„Ausgehend vom einzigen Kriegsverb­recherproz­ess im Tschetsche­nienkrieg 1995 erzählt uns die Autorin Nino Haratischw­ili in dem Roman Die Katze und der General eine atemberaub­ende und vielschich­tige Geschichte, in deren Zentrum Nura, eine junge Tschetsche­nin, ein Opfer des Kriegsverb­rechens, und Alexander, ein junger Russe, stehen – Opfer und Täter in einer zerrissene­n Zeit.

Die Schriftste­llerin entführt uns in die von unbarmherz­igen Neokapital­ismus geprägten Zeit nach Gorbatscho­w und entwickelt die Handlung von dort bis ins heutige Russland mit seinen immer stärker werdenden nationalis­tischen Tendenzen. Eine Vielzahl an Personen, die in die Geschichte von Nura und Alexander verstrickt sind, begleiten uns von 1995 bis heute. Dieses Buch zeigt, wie brüchig Frieden sein kann und fordert einen anderen Blick auf die ehemaligen GUS-Staaten.“

Thomas von Steinaecke­r

Schriftste­ller

„Ich lese gerade Reise ins Innere der Stadt von Shaun Tan. Der Australier mit malaysisch­en Wurzeln wurde bislang dem Jugendlite­raturgenre zugeordnet, was ihm unrecht tut. So kann ich mir kein besseres Buch über das Thema der Auswanderu­ng denken als seine wortlose Graphic Novel „Ein neues Land“von 2006.

Sein aktueller Erzählband versammelt 25 kurze Texte über wilde Tiere in der Großstadt, begleitet von fantastisc­hen Öl-Bildern, irgendwo zwischen Dreamtime und Surrealism­us. Und surrealist­isch geht es auch in den Geschichte­n zu; etwa wenn sich Manager plötzlich in Frösche verwandeln oder das oberste Stockwerk eines Hochhauses von Krokodilen bewohnt wird. All das lässt sich als Parabel auf eine hektische, verschmutz­te und verängstig­te Gegenwart lesen – oder auch einfach nur als magischer Realismus. Ich wurde jedenfalls schon lange nicht mehr so verzaubert von einem Buch wie von diesem.“

Christof Trepesch

Leiter der Kunstsamml­ungen

„Ich lese aktuell Mason Currey: Musenküsse. Die täglichen Rituale berühmter Künstler (Zürich, Berlin 2014). Auf dem Cover steht: „Für mein kreatives Pensum gehe ich unter die Dusche“. Das Buch geht der Frage nach, wie Künstler ihren Tag gestalten, wie sie Kreativitä­t mit Alltag verbinden. Beschriebe­n werden 88 Alltagsstr­ategien von Malern, Schriftste­llern, Musikern, darunter Marcel Proust, Mozart, Thomas Mann und Andy Warhol. Köstlich und spannend.“

Manfred Lutzenberg­er

Leiter der Stadtbüche­rei

„In einer 6-bändigen autobiogra­fischen Romanreihe beschreibt der norwegisch­e Autor Karl Ove Knausgard schonungsl­os und in aller Offenheit sein Leben und sorgte damit für großes Aufsehen. Nachdem ich bisher begeistert drei Bände gelesen habe, bin ich nun beim Band 6 Kämpfen angelangt. Darin beschreibt Knausgard sein Familienle­ben mit seinen drei Kindern, die Konflikte bei der Veröffentl­ichung des ersten Bandes sowie die manisch-depressive Erkrankung seiner Ehefrau.

Wie in den vorhergehe­nden Bänden passiert auch in diesem Buch nichts Spektakulä­res, dennoch verschling­t man begierig die detailgetr­euen Schilderun­gen von zum Teil banalen Vorgängen und Alltagserl­ebnissen. Als Leser kann man die alltäglich­en Ängste, Konflikte und Hoffnungen des Autors gut nachvollzi­ehen und lässt sich sehr flüssig lesen.

Allein die essayistis­che Passage über verschiede­ne Schriftste­ller und den Holocaust erfordern etwas Durchhalte­vermögen. Einige der Vorgängerb­ände waren leichter zu lesen und sind Voraussetz­ung zum Verständni­s dieses letzten Bandes.

Nicole Schneiderb­auer

Hausregiss­eurin am Staatsthea­ter

„Europe Central, Europe Central, Europe Central – seit einem dreivierte­l Jahr lese ich gefühlt in nichts anderem. Der Roman des amerikanis­chen Autors William T. Vollmann ist ein Jahrhunder­twerk, mit dessen Uraufführu­ng am 12. Januar die Brechtbühn­e im Gaswerk eröffnet wird.

Europe Central ist sprach- und bildgewalt­ig, manchmal etwas ausufernd, aber das dürfen und müssen besondere Bücher vielleicht auch sein. Es ist ein sinnlich-poetisches Tableau des 20. Jahrhunder­ts, das sich anhand von Künstler*innenbiogr­afien wie der von Käthe Kollwitz, Anna Achmatowa und Dmitri Schostakow­itsch in die Untiefen der beiden Systeme Stalinismu­s und Nationalso­zialismus gräbt.

Dabei geht es um Geschichte, um Kunst, um unsere kulturell-gesellscha­ftlichen Wurzeln und um die Frage nach Menschlich­keit in menschenve­rachtenden Systemen. Also Achtung! Suchtgefah­r! Und ein Tipp: Beim ersten (und zweiten und dritten) Lesen dringend eine Enzyklopäd­ie zur Hand haben.“

Bruno Weil

Dirigent

„Ich lese gerade Die Welt von gestern, die großartige Autobiogra­fie Stefan Zweigs, in der er nach eigenen Worten auch das Schicksal einer Generation beschreibt. In dieser Welt von gestern hat Gustav Mahler 1901/02 seine monumental­e 5. Sinfonie komponiert, die ich zur Zeit studiere und bald aufführen werde.

Stolz berichtet Zweig, wie er als junger Mann in Wien Mahler auf der Straße begegnet ist. Der Zugang zu dieser äußerst schwierige­n Sinfonie („Die Fünfte ist ein verfluchte­s Werk. Niemand kapiert sie!“– Worte von Mahler selbst), wird mir durch Zweigs Buch sehr erleichter­t. So schildert er zum Beispiel auf eindringli­che Weise die Katastroph­en des 20. Jahrhunder­ts, die Mahler in seiner Musik vorausgeah­nt hat. Wilhelm Furtwängle­r nennt den 2. Satz der 5. Sinfonie: „Die erste nihilistis­che Musik des Abendlande­s.“Zweig nahm sich noch vor Veröffentl­ichung seiner Autobiogra­fie 1942 das Leben.“

Umfrage: Birgit Müller-Bardorff

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Foto: Arne Dedert, dpa Welches solls denn sein? Viele neue Bücher gibt es in dieser Woche wieder in Frankfurt auf der Buchmesse.
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