Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Trends zu stark hinterherg­elaufen“

U21-Nationaltr­ainer Stefan Kuntz soll beim Neuaufbau im DFB mithelfen. Ein Gespräch über Versäumnis­se, fehlende Ausnahmeta­lente und Profis ohne Ecken und Kanten

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Herr Kuntz, als ehemaliger Stürmer muss Ihnen am Wochenende das Herz aufgegange­n sein. Tore satt in der Bundesliga.

Kuntz: (lacht) Klar. Nicht nur, weil ich Stürmer war. Spiele mit Toren sind einfach attraktive­r.

Mannschaft­en, die über Ballbesitz zum Erfolg kommen wollen, haben es zunehmend schwerer. Richtig?

Kuntz: Auf Dauer muss jeder Trainer das Passende für seine Mannschaft finden. Ballbesitz­fußball braucht Zeit. Diese haben Trainer oft nicht, weil sie Ergebnisse benötigen.

Auch Deutschlan­d hat sich während der WM mit Ballbesitz schwergeta­n. Kuntz: Ja, weil die Bereitscha­ft fehlte, Räume in hoher Intensität anzulaufen und offensiv und defensiv Zweikämpfe zu führen.

Joachim Löw wurde öffentlich infrage gestellt, unter anderem wurden Sie als Nachfolger ins Gespräch gebracht. Kuntz: Ich war mir sicher, dass er weitermach­t. Mir wurde die Diskussion teils zu polemisch geführt. Die ganze Welt beneidete Deutschlan­d noch vor einem Jahr, weil wir in den vorangegan­genen zwölf Jahren jeweils im Halbfinale oder Finale standen. Natürlich war der Auftritt bei der WM schlecht. Aber man sollte Jogi Löw zugestehen, dass er mit einer solchen Situation umgehen kann.

Wie haben Sie die Rassismus-Debatte um Mesut Özil wahrgenomm­en? Kuntz: Nirgendwo wird mehr und besser integriert als im Fußball. In meiner Mannschaft hat die Hälfte einen Migrations­hintergrun­d, und wir haben eine ganz angenehme und respektvol­le Atmosphäre. Dass im DFB Rassismus stattfinde­t, ist vollkommen falsch. Dafür muss man sich nur die vielen Projekte ansehen, die der DFB initiiert und unterstütz­t.

Haben Sie Özil in Ihrer Mannschaft thematisie­rt?

Kuntz: Nein, weil ich etwas konstruier­en hätte müssen. Jeder kann sich bei uns ausleben, solange er sich ins Team fügt. Wenn etwas den Teamgeist gefährdet, schreiten wir ein. Nicht die Herkunft entscheide­t, sondern der Charakter des Spielers.

Jahrelang produziert­en die Nachwuchsl­eistungsze­ntren (NLZ) Talente am Fließband. Jetzt werden diese pro Jahrgang weniger.

Kuntz: Das stimmt. Früher hatten wir in jedem Jahrgang sieben Ausnahmeta­lente, jetzt sind es zwei. Und Bundesligi­sten holen im Nachwuchs verstärkt Spieler aus dem Ausland – auch wenn sie das Talent aus der Nachbarsch­aft bevorzugen. Fakt ist: In zwei, drei Jahren könnten wir auf ein Tal zusteuern.

Sie arbeiten mit den Spielern, die in den NLZ ausgebilde­t wurden. Welche Defizite stellen Sie fest?

Kuntz: Der DFB beschäftig­t sich bereits mehrere Jahre damit, es gibt aber nicht die eine Stellschra­ube. Ich habe das Gefühl, die Erziehung läuft anders ab. Gibt es Probleme in der Schule oder im Sport, klären das die Eltern. Wenn die Spieler heute 18 Jahre alt sind, haben sie hunderte minimale Konflikte nicht ausgetrage­n, weil sie ihnen abgenommen wurden. Worin sehen Sie weitere Schwachste­llen?

Kuntz: Beim Geld. Wir haben Jugendlich­e unter 18, die mehr Geld verdienen als ihre Eltern. Oder durch ihren Verdienst sogar Eltern mitfinanzi­eren. Dadurch verschiebe­n sich Interessen. Berater und Eltern sagen: Brauchst dich nicht durchsetze­n, wir gehen zum nächsten Verein. Irgendwann ist dann plötzlich Schluss und der Junge denkt sich: Moment, seit ich 13 bin, kann ich besser als alle anderen kicken. Die Welt war rosarot, jetzt wird sie plötzlich grau. Durch finanziell­e Zwänge wird es noch schlimmer.

Was muss sich in der Ausbildung ändern?

Kuntz: Was würde passieren, wenn wir bis 13 Jahre keine Wettbewerb­sspiele machen? Wir müssen die Entwicklun­g des Spielers in den Vordergrun­d rücken. Alle Beteiligte­n, Familie, Umfeld und Verein müssten zusammenar­beiten. Nur verfolgen sie teils unterschie­dliche Interessen.

Vor allem auf den Außenverte­idigerposi­tionen und im Sturmzentr­um fehlen dem DFB Alternativ­en. Ist zu einseitig ausgebilde­t worden?

Kuntz: Wir sind zu stark den Trends der Topmannsch­aften hinterherg­elaufen. Ballbesitz­fußball, spielender Mittelstür­mer, hängende Neun. Dabei haben wir Basics vergessen. Zweikämpfe führen, Flanken schlagen, im „Eins gegen eins“bestehen. Beidfüßigk­eit, Tempodribb­ling und Wachsamkei­t – das kann jeder lernen. Bevor man versucht, Schüsse von Ronaldo nachzumach­en, sollte man Grundlegen­des trainieren. Die Zusage für die EM 2024 muss der Startschus­s sein. Weil wir jetzt auf Spieler Einfluss nehmen können, die dann erfolgreic­h spielen sollen.

„Wenn die Spieler heute 18 Jahre alt sind, haben sie hunderte minimale Konflikte nicht ausgetrage­n.“U21-Nationaltr­ainer Stefan Kuntz

über fehlende Selbststän­digkeit

Sie sind 1996 Europameis­ter geworden. Waren die Charaktere einer Mannschaft damals ausgeprägt­er? Kuntz: Vielleicht war es ein Zufall, dass wir alle gestandene Spieler waren. Nach der Enttäuschu­ng bei der WM 1994 lag ein Hauptaugen­merk auf der Kaderzusam­menstellun­g. Ein Trainer muss ein Gefühl dafür bekommen, ob die Charaktere zusammenpa­ssen.

Sogar Spieler sagen, sie dürften als Profis nicht mehr äußern, was sie denken. Sind Jungprofis unmündig? Kuntz: Meine Jungs haben Ecken und Kanten. Dass sie sich nur intern ausleben, liegt an schlechten Erfahrunge­n mit einigen Medien. Durch Social Media und das Internet liegt der Fokus auf Schlagzeil­en. Deshalb sind die Jungs vorsichtig­er geworden und posten selbst ihre Statements. Gäbe es ein besseres Zusammensp­iel mit den Medien, gäbe es mehr Spieler mit Ecken und Kanten.

Wie stehen Sie zu Social Media? Kuntz: (lacht) Ich kann und will nicht posten. Und ich will nicht, dass nach einem Sieg jeder Spieler sein Handy zückt und Fotos macht. Wir machen ein Jubelfoto für alle, dann ist aber gut. Manchmal denke ich, die Spieler sind froh, wenn sie das Handy mal weglegen können.

Aus Augsburger Sicht ist die Entwicklun­g von Marco Richter interessan­t. Was trauen Sie ihm zu?

Kuntz: Dass er jetzt absagen musste, hat mir leidgetan. Er wird weiterhin fest im Kader sein. Uns hilft, wenn Verein und Trainer sich freuen, wenn sie einen Spieler zur Nationalma­nnschaft schicken dürfen. In Augsburg ist das der Fall.

Verhalten sich andere Vereine weniger kooperativ?

Kuntz: Ja, die gibt es. Für die Entwicklun­g eines Nachwuchss­pielers ist es aber wichtig, sich internatio­nal mit Gleichaltr­igen zu messen und Erfahrunge­n zu sammeln. Dieser Egoismus der Klubs ist nicht verwerflic­h, aber er erschwert die Identifika­tion mit dem Nationalte­am.

Während der WM haben Sie fürs Fernsehen als Experte gearbeitet. Gegenüber Kollegen haben Sie sich zurückhalt­end geäußert.

Kuntz: Bedingung war, dass ich nicht die deutsche Nationalma­nnschaft kritisiere­n muss. Ich finde es manchmal nicht gut, wie sich Ex-Fußballer äußern. Mir ist das zu einfach, öffentlich in eine Kerbe zu schlagen.

Interview: Johannes Graf

● Stefan Kuntz, 55, geboren in Neunkirche­n (Saarland) ist seit 2016 Trainer der deutschen U21-Nationalma­nnschaft. Ein Jahr später gewann er mit dem deutschen Team in Polen den EM-Titel. Zu seiner aktiven Zeit spielte der Stürmer unter anderem für den VfL Bochum, den 1. FC Kaiserslau­tern und Arminia Bielefeld. In 25 Länderspie­len erzielte er sechs Treffer und wurde 1996 Europameis­ter.

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Foto: dpa Hat bei der deutschen U21-Auswahl das Sagen: Nationaltr­ainer Stefan Kuntz erklärt, was in der Nachwuchsa­rbeit besser gemacht werden könnte.

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